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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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vor dem Schuß. Kühe sind seltsame Tiere, beim geringsten Anlaß können sie durchdrehen, aber bei plötzlichem Krach blicken sie sich nicht einmal um. Nein, das stimmt nicht ganz, die Kuh, unter die ich mich gerade bücke, dreht die Augen nach hinten. Kühe können ihre Augen sehr weit nach hinten drehen, so, daß viel Weißes zu sehen ist; das sieht dann aus, als ob sie panische Angst hätten. Auf die Idee, einfach den Kopf zu drehen, kommen sie nicht. Zu Vater dürfte ich das nicht sagen, aber was soll’s: Kühe sind dumm. Noch dümmer als Schafe. Die einzigen klugen Tiere hier sind die Lakenvelder Hühner und die beiden Esel. Der zweite Schuß überrascht mich noch weniger als der erste: Wenn man noch nie mit einem Gewehr geschossen hat, ist es nicht unwahrscheinlich, daß man beim ersten Mal danebenschießt. Ich löse die Schläuche von der Melk- und Vakuumleitung, klopfe der Kuh auf die Flanke und lege das Melkzeug auf den schmutzigen Stallboden. Es folgen keine weiteren Schüsse.
    Als ich die Tür zwischen Waschküche und Flur öffne, sehe ich, daß die Haustür offensteht. Von Osten fällt schräges Sonnenlicht herein, in der Schachtel auf dem Boden glänzen die Messingböden der Patronenhülsen. Es riecht säuerlich im Flur, säuerlich und metallisch. Auch die Küchentür steht offen, alle Türen stehen offen. Auf einem Stuhl steht Henks Rucksack. Ich gehe zur Haustür. Eine Feder kommt herabgesegelt, eine schwarze Feder, sie fällt wie die Flügelfrüchte einer Esche, kreiselnd. Das muß eine Feder sein, die noch eine Zeitlang auf einem Ast balanciert hat, denn seit ich die Schüsse gehört habe, sind mindestens vier Minutenvergangen. Die Nebelkrähe selbst sitzt immer noch auf ihrem Ast, sie wendet uns den Schwanz zu. Als ob sie beleidigt wäre. Vaters Rad lehnt am Eisengeländer der kleinen Brücke. Henk steht unter der Esche, meinem Schlafzimmerfenster gegenüber. Aus dieser Entfernung hätte er sogar eine Maus treffen können. Er hat seine Jacke an. Es ist kälter als gestern morgen um diese Zeit, heute haben wir ein paar Grade weniger Sommer.
    Er schwenkt das Gewehr hin und her, wie um es wegzuwerfen, aber als er mich hört, stellt er es neben sich auf den Boden, seine rechte Hand umklammert die kalten Läufe. »Ich fahr jetzt«, sagt er.
    »Wohin?«
    »Zum Zug.«
    »Wie?«
    »Mit dem Rad.« Er zeigt auf die Brücke.
    »Und wie kommt das Rad dann wieder zurück?«
    »Dein Vater braucht es nicht mehr«, sagt er.
    »Weißt du, wie du fahren mußt?«
    »Ich halt mich einfach an die Schilder.« Er spricht mit der Krähe. Mich schaut er nicht an.
    »Hast du Geld?« frage ich.
    »Ja«, antwortet er. »Massig. Was hab ich denn hier schon ausgegeben? Und das Scheißkanu war fast umsonst.« Es kostet ihn einige Anstrengung, aber er schafft es, seinen Blick von der Krähe loszureißen. Er dreht sich um und geht in den Flur. Kurz danach kommt er mit seinem Rucksack wieder heraus. Das Gewehr hat er immer noch in der rechten Hand.
    »Hast du sie gar nicht getroffen?« frage ich.
    »Nein. Ist einfach sitzen geblieben. Als ob nichts passiert wär. Als ich noch mal geschossen hab, hat sie sich umgedreht, mit ’nem Hüpfer, die ist nicht normal . . .«
    »Warum hast du das gemacht?«
    »… so von wegen: Was ich nicht sehe, das gibt es auch nicht. Glaubst du , ich war das?«
    »Wer sonst?«
    »Glaubst du wirklich, ich käme selbst auf die Idee, so ein Tier totzuschießen?«
    »Du hattest noch eine Rechnung mit ihr zu begleichen«, sage ich.
    Er reicht mir das Gewehr. Jetzt schaut er mich an, mit einem höhnischen Lächeln. Dann geht er zum Fahrrad.
    Ich glaube, daß er jetzt nichts mehr sagen wird.
    »Dein Vater hat mich gestern abend darum gebeten. ›Schieß den Vogel aus der Esche‹, hat er gesagt.«
    Ich folge ihm zur Brücke. »Und da hast du gedacht: Na gut, mach ich.«
    »Ja. Selber konnte er es nicht.«
    »Du hättest es auch lassen können.«
    »Ich find deinen Vater nett. Netter als dich.«
    »Vielleicht hast du da ja recht.«
    »›Und wirf das Gewehr dann in den Graben‹, hat er noch gesagt.«
    »Aber das hast du nicht gemacht.«
    »Nein. Weil du plötzlich im Garten gestanden hast. Und ich find’s eigentlich auch zu schade.«
    »Hast du dich von ihm verabschiedet?«
    »Ja, sicher.« Er greift das Fahrrad am Lenker und rollt es auf die Straße. »Vielleicht sehn wir uns noch irgendwann.«
    »Was hast du jetzt vor, Henk?«
    »Ich weiß noch nicht. Mir fällt schon was ein.« Er schwingt das Bein über

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