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Oben ohne

Oben ohne

Titel: Oben ohne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Heeg
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nicht. Definitiv! Meine Mutter war zu Beginn ihrer Krankheit viel im dortigen Universitätsklinikum, das war vielleicht eine Autostunde von Göppingen, wo ich aufgewachsen bin, entfernt. Sie bekam dort – glaube ich – regelmäßig Chemotherapien und wurde ein paar Mal operiert. Genau weiß ich das alles nicht mehr. Während ihrer ganzen Krankheit, das ging etwa zwei Jahre, und ich war zu Beginn vielleicht zwölf, war mir nicht klar, dass sie Krebs hat. Und das, obwohl ich durch die Krankheit meiner Tante schon wusste, dass man bei Krebs eine Chemobehandlung bekommt. Bei meiner Mutter habe ich das offensichtlich verdrängt. Der Zusammenhang bestand nie. Und darüber gesprochen hat auch keiner. Erst nach ihrem Tod hörte ich, wie mein Vater bei einem Telefongespräch sagte: » … der Scheiß-Krebs!« Da wurde mir schlagartig klar, was ich die ganzen Jahre nicht wahrhaben wollte oder konnte.
    Ich kann mich an eine Situation erinnern, da saß meine Mutter mit höllischen Schmerzen auf einem Spezialkissen auf dem Sofa im Wohnzimmer (der Krebs hatte gestreut und einen Wirbel befallen, der in der Zwischenzeit durch einen künstlichen Wirbel ersetzt worden war). Völlig naiv, wie Kinder halt sind, fragte ich sie: »Mama, wie hält man das ganze Leben so Schmerzen aus?«
    Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was sie mir geantwortet hat. Auf jeden Fall ließ sie mich mit dem Gefühl zurück, dass das schon in Ordnung geht.
    Meine Mutter trug natürlich eine Perücke. Das wussten wir auch. Sie machte mit uns sogar Scherze darüber. Allerdings habe ich sie nie ohne Haare gesehen. Ich wusste, dass sie nachts teilweise so schlief. Aber wenn wir morgens ins Schlafzimmer kamen, hatte sie auf jeden Fall immer die Perücke auf. Als ihr wieder Haare wuchsen, freuten wir uns trotzdem alle riesig. Wir schmiedeten Pläne, was wir ihr mit den neuen kurzen Haaren für Frisuren machen würden. Es war nur ein babyartiger Flaum, irgendwie hätte das eigentlich enttäuschend sein müssen, aber es spielte für mich keine Rolle. Es hatte alles so seine Richtigkeit.
    Dass meine Mutter sterben würde, erfuhr ich rein zufällig. Am Tag bevor ich ins Schullandheim ging. Ich besuchte sie allein im Krankenhaus. Mittlerweile lag sie immer in Göppingen, da die Strecke nach Ulm zu weit geworden war. Von daher konnte ich jetzt mit dem Bus zu ihr fahren. An diesem Tag war einiges komisch, anders als sonst. Wobei ich das damals mehr spürte als wusste. Im Nachhinein ist das natürlich alles viel klarer. In ihrem Krankenzimmer lief die Klimaanlage, deshalb konnte man keine Fenster öffnen. Grausam! In der trockenen Luft wurden meine Lippen immer rasend schnell rissig. Von daher war der Labello-Stift mein fester Begleiter. Und wie immer fragte ich meine Mutter, ob sie ihn benutzen möchte. Sie reagierte nicht. Aber kaum hatte ich den Stift weggepackt, fragte sie mich, ob ich einen Labello dabeihätte. Ich holte ihn wieder heraus und gab ihn ihr – aber sie bekam ihn nicht auf – und ich bemerkte, dass sie an der falschen Seite zog, ohne es zu merken. Das hatte etwas völlig Unfassbares für mich! Außerdem hatte ich an diesem Nachmittag den Eindruck, dass sie die Tropfen ihrer Infusion zählte. Sie war offensichtlich ziemlich verwirrt.
    Im Nachhinein ist mir klar, dass da bereits Morphium in ihre Adern tropfte. Aber damals wusste ich nichts davon. An diesem Nachmittag war auch eine von Mamas Freundinnen zu Besuch. Sie kam – wie alle ihre Bekannten – mit einer Thermoskanne Kaffee ins Krankenhaus, meine Mutter hat wohl immer sehr viel davon getrunken. Aber auch den Kaffee wollte meine Mutter nicht oder registrierte das Angebot ihrer Freundin nicht.
    Nun ja, ich nahm das zwar wahr, aber machte mir keine weiteren Gedanken darüber. Als ich wieder gehen wollte, bot mir die Freundin meiner Mutter an, dass sie mich mit in die Stadt nehmen könnte, dann bräuchte ich nicht mit dem Bus fahren. Das war natürlich praktisch. Als wir auf dem Parkplatz zu ihrem Auto gingen, sagte sie: »Du weißt schon, dass deine Mutter wahrscheinlich nicht mehr lebt, wenn du aus dem Schullandheim zurückkommst, oder?«
    Ich weiß nicht mehr, ob oder was ich geantwortet habe. Das war natürlich ein Schock. Ich habe auch keine Erinnerung mehr an die Autofahrt. Sie ließ mich in der Stadtmitte raus. Ganz in der Nähe arbeitete mein Vater. Kurz dachte ich darüber nach, ob ich jetzt zu ihm hochgehen sollte. Aber seine Arbeit war ihm immer sehr wichtig, und zudem wusste ich

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