Oberst Redl
geradezu idealtypisches Beispiel für ein von Brüchen und Widersprüchen geprägtes Zeitalter. Davon abgesehen wurde der »Meisterspion« zur Projektionsfläche aller nur erdenklichen Feindbilder. Die Dämonisierung des Verräters korrespondierte in gewisser Weise mit der desillusionierten Darstellung von einer anscheinend in Skandalen versinkenden Elite des Habsburgerreiches. Wer die Zeitungen vom Frühjahr und Sommer 1913 eingehender studiert, wird wenig von Stefan Zweigs teilweise stark idealisierter »Welt von Gestern« wiederfinden. So kamen angesichts des Redl’schen Verrates und zahlreicher anderer Affären einige Kommentatoren zu der Überzeugung, dass »der verfluchte Goldhunger unserer dreckigen Zeit« mitverantwortlich sei für derartige Vorkommnisse. 3
Der zweite Teil des Buches widmet sich außerdem der Frage, welchen wechselnden Interpretationen sich die Mythen- und Legendenproduktion rund um den Fall Redl in den Jahrzehnten nach 1913 zuwandte. Das »Scheusal Redl« mutierte bisweilen zum Opfer und der »homosexuelle Verräter« zum Zielobjekt verführerischer Frauen. Romanschriftsteller und Filmregisseure bedienten sich gerne gängiger Klischees über die Donaumonarchie und zeichneten den spionierenden Oberst mitunter als eine Art »Gentleman-Betrüger« oder als tragische Figur mitten in einer zugrunde gehenden Welt.
Als wir mit dem Sondieren der gesammelten Materialien zum Buch begannen, vorbereitende Auswertungen der Dokumente vorgenommen wurden und die ersten Texte entstanden, hatte sich bereits eines deutlich abgezeichnet: Die Bedeutung der Affäre war größer, als wir ursprünglich angenommen hatten.
I. ERMITTLUNGEN
UND ERZÄHLUNGEN
(1) Oberst Michail Ippolitovič Zankevič. Der russische Militärattaché stand an der Spitze eines regelrechten Agentennetzwerkes.
(4) Nikolaj Batjušin. Seine Rolle im Fall Redl hielten viele für entscheidend. Russische Akten vermitteln ein anderes Bild.
(5) Das Schreiben des J. Dietrich wurde Alfred Redl alias Nikon Nizetas zum Verhängnis.
DUNKLE GESCHÄFTE
Herr S.
Anfang Juli 1913 richtete ein Agent, der in der
Razvedka
-Abteilung in Kiew unter dem Pseudonym »Ryžij«, der »Der Rothaarige«, firmierte, einen Brief an seinen Auftraggeber. In diesem Schreiben gab er sich empört über die erhaltenen Anweisungen. Er könne das gewünschte Material nicht länger bei sich behalten, da täglich Hausdurchsuchungen stattfänden. 354
Die Redl-Affäre hatte viele Spione alarmiert. Nun hieß es, entweder für einige Zeit in Deckung zu gehen oder noch größere Vorsicht als bisher an den Tag zu legen. »Der Rothaarige«, der seine Briefe mit »S.« unterschrieb und offenbar in Wien zu Hause war, hatte bereits im Mai von zahlreichen Verhaftungen berichtet und in Anbetracht des Risikos, das er einging, den Preis für den Verkauf seiner Informationen in die Höhe getrieben. Unter anderem schlug er dem Adressaten seiner Briefe, den er als »Oberst« ansprach, vor, gewisse Mitteilungen über einzelne Evidenzbürooffiziere zu machen. Zum Beispiel über jene, die hohe Schulden bei ihm hätten. Vor allem August Urbański kenne er sehr gut, da er nahezu täglich in seinem Geschäft vorbeikäme. 355
Der Laden, um den es sich dabei handelte, war die tatsächlich von zahlreichen Offizieren frequentierte k.k. Hofbuchhandlung »Seidel & Sohn« am Graben in Wien. Geleitet wurde sie 1913 nicht mehr von den beiden »Seidels«, sondern von einem Enkel des Gründers. Das Geschäft führte eine Reihe von »Militaria«. Die Firma war unter anderem wegen ihres ehemaligen »Militärverlags« bekannt und ist es in Zusammenhang mit der Publikation
Seidel’s Armeeschema
unter Militärhistorikern bis heute geblieben.
Ob die
Razvedka
in Erfahrung brachte, dass »Seidel & Sohn« mit Wissen des Evidenzbüros in das »Spionagegeschäft« eingetreten war,geht aus den Akten des Militärhistorischen Archivs in Moskau nicht hervor. Max Ronge jedenfalls ließ sich über die diesbezügliche Korrespondenz regelmäßig informieren. 356
Dass der russische Generalstab hochoffiziell Einkäufe im Buchgeschäft am Graben tätigte, drang aller Wahrscheinlichkeit auch an die Ohren des Kundschaftsleiters. Nicht eruierbar ist, ob Ronge von den Bestellungen des ehemaligen russischen Militärattachés Marčenko bei der »Kunst- und Landkartenhandlung Artaria« wusste. In diesem Geschäft, das die
Razvedka
als »Depot der Karten des k.u.k. Militärgeographischen Institutes« identifizierte, erwarb der
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