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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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vereinbart, dass er sich alle sechzig Sekunden meldete. Er leuchtete Wände und Decke mehrmals mit der Taschenlampe ab, doch nirgends war ein Hinweis darauf zu sehen, dass es einen weiteren Ausgang aus dieser Höhle gab. Hatte er sich vorher am Bildschirm so getäuscht? Hatte ihn sein sonst so gutes Gespür getrogen? Der Wasserspiegel hob und senkte sich leicht. Er kramte in seinem Physik-Grundwissen aus der sechsten Klasse. Das Prinzip der Kommunizierenden Röhren. Der Flüssigkeitsspiegel bei Gefäßen, die miteinander verbunden sind, gleicht sich an. Also musste es eine Verbindung zu anderen Räumen geben! Er trat vorsichtig auf diejenigen Stellen des Bodens, die unter Wasser standen. Hier konnte er keine Öffnung nach unten entdecken, das hatte er auch gar nicht erwartet. Das Wasser schwappte nach wie vor hin und her und schmatzte an die Ränder. Er leuchtete den Boden ab. Der verlief etwas schräg, auf die Felswand hin, die dem Berg zugewandt war. Als sich der unruhige Wasserspiegel dort wieder etwas gesenkt hatte, entdeckte er an einer Stelle eine Öffnung, die unter der Wand hindurchführte.
    »Ich habe gerade einen Durchgang entdeckt. Ich werde versuchen, auf die andere Seite zu kommen!«
    Jennerwein wartete die Antwort erst gar nicht ab. Er sicherte die Kugel, indem er einen Haken in den Fels schlug und sie daran fixierte. Dann stieg er mit den Füßen voraus durch das Schlupfloch, das ihm gerade so viel Platz bot, um sich durchzuhangeln. Er hoffte, dass er sich nicht in die Hölle hangelte.
    »Ich bin in einem zweiten Raum«, gab er durch. »Er ist wesentlich größer als der erste. Es ist ein langer Schlauch, der weiter ins Innere des Berges führt.«
    Er hörte Marias aufgeregte Stimme. Sie sagte etwas, doch er verstand sie schlecht, er verstand sie gar nicht, die Funkverbindung brach ab. Er musste sich beeilen. Wenn er sich länger als zwei Minuten nicht meldete, riefen sie die Bergwacht, die Wasserwacht, das Technische Hilfswerk, die Kampftaucherabteilung der Polizei, das ganze Programm eben. Diese Höhle hatte die Form und die Größe eines U-Bahn-Tunnels, auch in ihr stand und schwappte Wasser, auf einer Seite gab es jedoch einen erhöhten, trockenen Streifen, dort konnte man wohl gefahrlos entlanggehen. Er tastete sich an der Wand entlang. Die Funkverbindung war sehr schlecht, das hinderte ihn jedoch nicht daran, weiterzugehen. Wer schon einmal in einer Höhle war, weiß, warum. Noch schlimmer als die Angst, dem Bären in der Höhle zu begegnen, ist die Angst, wieder herauszukommen, ohne den Bären gesehen zu haben.
     
    Mit der einen Hand hielt er die Taschenlampe, mit der anderen stützte er sich an der Wand ab. Ohne Taschenlampe, dachte er, würde man hier unendlich lange brauchen, voranzukommen. Er bekam wieder Funkverbindung.
    »Bei mir ist alles in Ordnung. Bin zwanzig Meter in einer zweiten Höhle.«
    In regelmäßigen Abständen sprühte er eine Markierung an die Wand. Er warf einen Blick auf die Spraydose. Der Markenname dieses Requisits für Höhlenkundler war
Ariadne
, was sonst.
     
    Dreißig Meter, vierzig Meter – die Reise zum Mittelpunkt der Erde. Er konnte es kaum glauben, wie weitläufig diese Höhlen waren. Konnte es sein, dass hier schon seit Jahrhunderten Menschen lebten? Er versuchte, diese Gedanken abzuschütteln, zu verstörend war die Vorstellung eines Lebens ohne Licht und Sonne, zu abwegig schienen die Konsequenzen: Eine Ansammlung von verwahrlosten, durch Inzucht und Kannibalismus rückgebildeten Kreaturen – und in dreihundert Meter Luftlinie, natürlich außerhalb der Höhle, befand sich die Terrasse der Hammersbacher Hütte, in der goldglänzender Kaiserschmarren mit Apfelkompott angeboten wurde.
    »Hier Jennerwein. Alles bestens. Geben Sie mir noch ein paar Minuten.«
    » … gefunden? … schlecht …«
    Der Boden war fest und trocken, er kam gut voran. Es war ein langer, leicht gekrümmter Gang. Jennerwein sah vor sich eine Abzweigung. Er bog um die Ecke und leuchtete den kleinen Seitenraum mit der Taschenlampe aus. Der Anblick war furchtbar. Auf einer etwas erhöhten Stelle, ganz im Trockenen, blitzten mehrere grellweiße Skelette im Lichtschein auf. Jennerwein erschrak. Doch er reagierte professionell und versuchte, sein Entsetzen in den Griff zu bekommen. Er konzentrierte sich. Er massierte die Schläfen mit Daumen und Mittelfinger. Er war Polizeihauptkommissar, er war schon einige Jahre im Dienst, er hatte schon viele Skelette gesehen, und Skelette waren

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