Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
Vom Netzwerk:
nicht das Schlimmste, was er gesehen hatte.
     
    Er trat näher. Nach dem Zustand der Knochen zu urteilen mussten sie schon sehr alt sein. Sein Puls beruhigte sich langsam wieder. Zentimeter für Zentimeter fuhr er den Skeletthaufen mit der Taschenlampe ab. Nach seinen medizinischen Laienkenntnissen waren es Skelette von Männern, von erwachsenen Männern. Die zerfallenen Kleidungsfetzen, die dazwischen verstreut lagen, ließen keinerlei Rückschlüsse darauf zu, wer sie waren oder wie sie zu Tode gekommen sind. Zwei der Skelette waren beschädigt. Ihnen fehlte das obere Drittel des Schädels. Die Schädeldecken waren fein säuberlich abgetrennt worden, Jennerwein leuchtete den Haufen und die nähere Umgebung ab, sie waren nirgends zu finden. Schließlich fiel der Lichtkegel auf eine Tasche, eher einen Tornister, wie ihn das Militär manchmal verwendete. Er streifte Handschuhe über, öffnete ihn vorsichtig und holte ein Buch heraus. Es war ein aufgequollenes Notizbuch, dessen Umschlagseiten abgerissen waren. Es schien sich um ein improvisiertes Tagebuch zu handeln:
    … der Weißkittel kam herein und begann mit der Behandlung …
    Er ließ das Notizbuch in eine Plastiktüte gleiten, dann steckte er es in die Innentasche seines Taucheranzugs.
     
    »Ich bin jetzt etwa fünfzig Meter im Inneren«, sprach er ins Funkgerät, immer noch wie benommen von dem, was er da gesehen hatte. »Ich mache noch ein paar Fotos, dann gehe ich wieder zurück.«
    »Okay, Chef. Was haben Sie gesehen?«
    »Erzähle ich, wenn ich oben bin.«
    Gerade als er sich aufmachen wollte, diese schaurige Grabkammer zu verlassen, vernahm er ein kratzendes, rasselndes Geräusch. Er konnte nicht ausmachen, aus welcher Richtung es kam. Es war ein Geräusch, das nicht in diese Umgebung zu passen schien. Er leuchtete mit der Taschenlampe die Decke entlang, wieder traf er die grell glitzernden Molybdänerze, sonst entdeckte er nichts Auffälliges. Er leuchtete die Wasseroberfläche ab. Sie war still und glatt, nur ab und zu stiegen winzigkleine Bläschen lautlos an die Oberfläche. Am Uferrand entdeckte er eine schwärzliche Stelle. Er trat näher. Es war feines, schwarzes Pulver, das da lag. Er schnupperte daran und zerrieb es zwischen den Fingern. Es war Kohlenstaub. Hier musste jemand Feuer gemacht haben. Als er die Stelle genauer betrachtete, konnte er kleine Reste von Fischgräten erkennen. Und wieder das kratzende Geräusch. Blitzartig drehte er sich um, mit der Hand hatte er automatisch zur Waffe gegriffen. Das Geräusch war aus einer Ecke der Höhle gekommen, er leuchtete in die Richtung, dort lag nur ein Haufen grauer Lumpen aufgetürmt, sonst nichts. Er kniete sich nieder, um den Kohlenstaub der Feuerstelle genauer zu untersuchen, er fand weitere Fischgräten – und da, war das nicht ein Knöchelchen von einem kleinen Tier? Er fingerte nach der Plastiktüte, um es einzustecken. Dann wieder das Geräusch – und wieder nur Lumpen, als er mit der Taschenlampe hinleuchtete. Er stand auf und näherte sich dem Lumpenhaufen. Jetzt verstärkte sich das Kratzen. Vorsichtig nahm er den obersten Fetzen des Haufens weg. Jennerwein erschrak furchtbar, ein Schauer des Entsetzens überlief ihn. Aus den Lumpen tauchte der Kopf einer ausgemergelten Gestalt auf. Von der plötzlichen Helligkeit geblendet, kniff sie die Augen schmerzverzerrt zusammen. Jennerwein ließ seine Waffe wieder los. Er riss die Fetzen von dem Haufen. Ein Mann lag zusammengekrümmt vor ihm. Der Mann hielt einen Kugelschreiber in der Hand, mit dem er auf dem Felsen gekratzt hatte. Er war vollkommen geschwächt und über und über mit Schürfwunden bedeckt. Trotzdem erkannte ihn Jennerwein sofort. Es war Fred Weißenborn.
     
    Jennerwein stöhnte auf. Sie hatten ihn gefunden! Er schwankte zwischen Schreck und Erleichterung. Weißenborn röchelte. Hier war schnelle Hilfe nötig. Vorsichtig hob Jennerwein den BKA -Beamten auf die Arme und brachte ihn zurück zur Tauchkugel.

60 .
    »Kreuzkruzifix!«, fluchte der Kottesrieder Loisl, als er sich an den Stammtisch vom
Kerschgeiststüberl
gesetzt hatte. »Gibt es denn kein anderes Thema! Jetzt hat man sogar in der Wirtschaft keine Ruhe mehr vor diesem Jennerwein!«
    »Ja, ist doch wahr!«, sagte der Gemeinderat Toni Harrigl und nippte nervös an seinem alkoholfreien Bier. »Das wird man doch noch sagen dürfen! Der Jennerwein bringt es hinten und vorne nicht – das müsst ihr doch jetzt selbst einsehen! Wir haben einen Toten. Schon seit

Weitere Kostenlose Bücher