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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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Loisach gab es eine beliebte Einstiegsstelle. Die Loisach, die den Kurort in Gut und Böse teilte, war kanutechnisch ein Gewässer der mittleren Schwierigkeitsstufe  II , an manchen Stellen vielleicht auch III . Die internationale Wildwasserschwierigkeitsskala bewegte sich zwischen den Stufen 0 (Dorfteich) und VI (extreme Schwälle, Walzen, Presswasser, Grenze der Befahrbarkeit, Niagara, Hades). Momentan kurvte Konrad Finger jedenfalls langsam die Loisach hinunter, er stach mit dem Ruder in eine kleine, flache Stelle, dann nahm er Fahrt auf. Der Vertriebsleiter für Österreich, Schweiz, die baltischen Staaten, die Tschechei, die Ukraine (das lukrative Polen hatte ein Protégé des Chefs, der Idiot R. bekommen) rückte seinen Sturzhelm zurecht, rechts zog langsam das Wettersteingebirge vorbei, links der Kramer. Früher war auch er auf die Berge gestiegen, Wildwasserfahren war aber noch aufregender. Er hatte mehrere Kurse im fernen Kanada belegt und war als leibhaftiger Wildwasserkanut zurückgekommen. Man kann sich schon denken, was seine Frau gesagt hatte: Jetzt hast du das auch geschafft. Innerhalb von kürzester Zeit widmete Finger jede freie Minute dem Kanusport. Bei den reißenden Fahrten, ganz alleine im Boot, konnte er am besten nachdenken: Je schwieriger der Parcours, desto waghalsigere Ideen für Geldanlagen und Marketingaktionen fielen ihm ein. Die Zuliefererfirma XY kaufen oder sie als Kunden behalten? Schon mehr als einmal hatte er die intuitive Lösung gehabt, als er aus dem Strudel wieder heraus war: XY sofort kaufen! Oft hatte er im Boot noch mit seinem Büro telefoniert, um die entsprechende Order durchzugeben.
     
    Er hatte Mathematik und Informatik studiert, auch in Amerika, auch an der Stanford, dann stieg er in die Firma ein als Verantwortlicher für die Software, die im Rechner Strömungen nachbildete. Luftströmungen, Festkörperflussströmungen, Wasserströmungen, alles Mögliche.
    »Warum einen gefährlichen Wildwasserparcours hinunterfahren«, hatte er damals in einem Vortrag vor Kunden gesagt, »wenn ich auf der Simulation sehen kann, wo die tödlichen Stellen sind!«
    Das hatte er damals gesagt, so würde er heute nicht mehr reden. Denn das Wildwasserfahren war mit keiner Simulation zu vergleichen. Da vorne kam eine Reynolds-Schraube. Wenn man den aus dem Wasser ragenden Stein da vorne, die Seitenwand, die Wassergeschwindigkeit, die Temperatur, das Gefälle und sonst noch ein paar Werte zusammenrechnete – wenn man also den Strudel simulierte, wusste man, wie man da heil durchkommt. Was war das aber gegen das Gefühl, mit einem leichten, intuitiven Druck des rechten Hinterbackens, ganz ohne Theorie, nur mit dem Gefühl Mensch –vs– Natur durch den Strudel zu gleiten!
     
    Noch zehn Meter. Es war ein Reynolds-Strudel der höheren Schwierigkeitsklasse. Es war eine Wasserwalze, die einen auf jeden Fall auf den Grund zog, in diesem Fall knappe drei Meter tief. Man musste nur darauf achten, dass man sich unten nicht verkantete, dass man den Dingen seinen Lauf ließ, dass man gar nicht erst versuchte, sich unten abzustoßen oder andere gegenläufige Bewegungen machte. Denn normalerweise galt der alte Indianerspruch
taki-nama-teki-jo
: Eine Walze, die sich nach unten dreht, dreht sich auch wieder nach oben. Konrad Finger hatte diese Reynolds-Stelle schon ein paar Mal durchfahren, einmal war er fünf Sekunden unten geblieben, aber dann hatte ihn der gütige Sog wieder nach oben gehoben, sogar ein bisschen aus dem Wasser geschleudert, und das Glücksgefühl, das er gehabt hatte, war unbeschreiblich gewesen. Konrad Finger durchlebte herrliche fünf Sekunden, dann nochmals mulmige zwei Sekunden, dann kam ein rüder Schock. An diesem formvollendeten Reynolds-Strudel hatte irgendein Idiot ein Fahrrad ins Wasser geworfen, das auf den Grund gesunken war, und an dem er jetzt festhing. Der alte indianische Spruch
taki-nama-teki-jo
hatte in einem solchen Fall seine Gültigkeit verloren.

12 .
    »Ein Fake-Verbrechen?«, sagte Nicole Schwattke und trat ins sepiabraune Moos, wobei sie darauf achtete, einige Blumen in Umbra, Neapelgelb und Fischsilber nicht zu zertreten. »Ich glaube es immer noch nicht.«
     
    Nachdem sich alle von Dr. Rosenberger verabschiedet hatten, beschlossen sie, noch am selben Tag eine Lagebesprechung abzuhalten. Nach dem, was sie vorhatten, war es ratsam, sich im Kurort vorerst noch nicht sehen zu lassen, um das Fake-Verbrechen, die Dattelberger-Finte nicht zu gefährden. So

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