Oberwasser
Gemsen springen sehen oder im Frühtau das Loisachtaler Morgenrot bewundert, das lasziv über den Wank schlingert? Haben Sie einen der oft gerühmten, mehr oder weniger schneebedeckten Berge bestiegen und dort die herrlichen Gipfelbucheinträge inspirierter Hochpoeten studiert? Waren Sie vielleicht sogar auf dem Zugspitzplatt und haben kaffeeschlürfend dem größten Gletscher Deutschlands beim Wegschmelzen zugeschaut? Sie schütteln den Kopf? Aber in der verschwiegenen Spielbank werden Sie doch gewesen sein, in der Dostojewski schon saß, im Jahre 1867 , als er sich seine Spielsucht abgewöhnen wollte? Nein? Denken Sie nach: Vielleicht haben Sie ja einen Bekannten, der, auf dem Weg nach Italien oder Südafrika, einmal Rast gemacht hat kurz vor der Grenze, in einem der Zugspitzstüber’l, Riesserseehütter’l oder Olympiarestaurant’l? Nich’t? Und der dann in der Pension Alpenrose, Edelweiß, Zugspitzblick, Bergesruh, Gipfelglück, Zirbelholz oder so ähnlich übernachtet hat? Kennen Sie keine solchen Leute? Aber im Fernsehen werden Sie doch wohl mal die scharfkantige Wettersteinwand angeguckt haben, oder die frierenden untergewichtigen Skispringerchen und wackeren Biathlonheroinen aus der Gegend? Nicht? Niemals? Völlige Fehlanzeige?
Zugegeben, die touristischen Angebote dort unten im Süden der Republik sind vielleicht allzu vielfältig, die eigene Freizeit hingegen ist knapp bemessen. Aber! Aberaberaber aberaber!
Wenn
Sie mal da sein sollten im Föhnland, und wenn Ihnen die Zeit fehlt, die herrlichen Herausforderungen des Fremdenverkehrsamts alle durchzuhecheln, dann versprechen Sie mir wenigstens eines: Gehen Sie auf den Friedhof. Wenn Sie diesen Friedhof am Fuße der Kramerspitze gesehen haben, dann haben Sie alles gesehen. Der herrliche Viersterneacker ist eine Fahrt von Bümmerstede quer durch Deutschland wert. Er ist so liebreizend eingebettet in die Landschaft, dass ein gewitzter Münchner Immobilienmakler schon entsprechende finale Liegeplätze angeboten hat:
Drei Kubikmeter, Sonnenhang
– die Nachfrage war enorm. Der halbe Kurort liegt da unter der Kramerspitze versammelt, friedlich vereint findet man da die verblichenen Originale des Tales, den Halberdinger Maxl, den Groest Beppi, natürlich den unvergessenen Zither-Beppi, die Rafflmauxner Ludmilla und den Obersberger Rudi. Auf den Kieswegen trifft man selbstverständlich auch auf höchst Lebendige, zum Beispiel die Grinzrainer Gretel, die die ewigen Begonien gießt. Und so eine Lebende führt einen auch gerne herum, innerhalb der Öffnungszeiten natürlich.
Die drei Herrschaften, die gerade über die Friedhofsmauer stiegen, hielten sich nicht an die Öffnungszeiten, sie glaubten weit über den örtlichen Friedhofsrahmenbestimmungen zu stehen. Sie waren in ganz anderer Hinsicht penibel: Sie achteten darauf, keine Spuren zu hinterlassen, keine abgeknickten Zweige, keine Schuhtapper, nicht einmal Fingerabdrücke. Nicht, dass sie momentan auf der Flucht gewesen wären – es waren einfach alte Gewohnheiten, die sie von heut auf morgen nicht so einfach ablegen konnten. Als sie schließlich auf der anderen Seite der Mauer heruntergehüpft waren, dämmerte der Morgen, und das fahle Licht wies ihnen den Weg. Doch zumindest zwei der ungewöhnlichen Friedhofsbesucher hätten auch im Dunkeln ihren Weg gewusst. Sie waren vom Fach. Sie waren Bestatter. Und sie kannten fast jeden hier auf dem Friedhof. Viele davon hatten sie selbst unter die Erde gebracht, höchstpersönlich, professionell und mit der versammelten Würde des Berufs.
»Ein eigenartiges Gefühl ist das schon«, sagte Ursel Grasegger zu ihrem Gatten, »wenn man nach so langer Zeit wieder einmal auf heimatlicher Erde steht.«
»Da schau hin, da liegt der Obersberger Eugen«, sagte Ignaz Grasegger. Beide hielten vor dem sauber gepflegten Grab inne. Der dritte Mann, der als letzter über die Friedhofsmauer geklettert war, wischte sich die Hose ab und gesellte sich zu den beiden.
»Was hat es denn mit diesem Obersberger Eugen auf sich?«, fragte Maximilian Goldacker.
Goldacker war der Rechtsanwalt der Familie Grasegger, er war ein guter Rechtsanwalt, ein erfolgreicher Strafverteidiger, und einen solchen hatten sie auch dringend nötig gehabt, nach all dem, was sie in den letzten Jahren an zweifelhaften Geschäften im Kurort, aber auch in Italien und Österreich getrieben hatten. Goldacker hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit Ludwig Thoma, dem Alpenhebbel, und Goldacker pflegte
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