Oberwasser
nochmals, und jetzt blieb dem Wildschütz wohl nichts anderes übrig, als das Feuer zu erwidern. Mehrmals. Und da war es geschehen: Der Oberforstrat fasste sich ans Herz und fiel zuckend und zappelnd, schreiend und stöhnend auf die Wiese, er kullerte den Abgang hinunter, schlug durch ein paar Büsche und geriet schließlich außer Sicht. Der Lederhosenträger lief in die andere Richtung, schließlich verschluckte auch ihn der Wald. Regungslose Stille auf der Terrasse. Niemand wagte sich dort hinunter, man wusste ja nicht, wie viele Kugeln noch in den Läufen warteten. Der Wirt der Schröttelkopf-Alm rief die Polizei. Die beiden Polizeiobermeister Johann Ostler und Franz Hölleisen waren innerhalb von wenigen Minuten da. Sie mussten ganz in der Nähe Streife gefahren sein – oder sie waren einfach so auf Draht –, denn bald nach den Schüssen brausten sie schon den Bergweg mit Blaulicht herauf und hielten mit quietschenden Bremsen im Hof der Schröttelkopf-Alm. Sie sprangen geschmeidig wie die Wildkatzen heraus und liefen mit gezogenen Waffen die Wiese hinunter. Vorsichtig teilten sie die Büsche, die am Wiesenrand standen, dann waren auch sie verschwunden.
»Dit jibs ja janich!«, rief Giesecke und setzte sich.
Ostler und Hölleisen mussten nicht lange suchen. Bald sahen sie die Spur, die noch weiter abwärts, zu einem Heustadel führte, es war ein breiter Streifen niedergedrückten Grases. Es war genauso ein Streifen, wie ihn Charles Bronson in
Rio Grande
hinterlassen hatte, als er schwerverwundet vor dem hinterhältigen Marshall geflohen war.
»Da, in dem Heuschober, da ist er!«, flüsterte Hölleisen, und beide schlichen sich hin. Leise öffneten sie die knarzende Tür, und da lag er, der Oberforstmeister.
»Können Sie uns kurz schildern, was dort droben auf der Schröttelkopf-Alm passiert ist?«
Der Reporter der örtlichen Zeitung hielt Jennerwein das Aufnahmegerät vor die Nase, und nie hatte der Kommissar mehr Lust gehabt, die Wahrheit hineinzusprechen. Aber natürlich hielt er sich an den Drehplan.
»Wir wurden gerufen, weil sich im Ort ein Gewaltverbrechen ereignet hat. In einem Heuschober am unteren Rand der Schröttelkopf-Wiese wurde die Leiche eines etwa 40 -jährigen Mannes gefunden. Er hatte frische Schussverletzungen, seine Identität ist noch nicht geklärt.«
»Können Sie uns Genaueres über die Schussverletzungen sagen?«
Nicht allzu geheimnisvoll bleiben, dachte Jennerwein, einige Fakten auf den Tisch legen, einen Brocken Brot hinwerfen, um den Kuchen für sich zu behalten.
»So weit sind wir noch nicht. Es wurden mehrere gezielte Schüsse in den Brustkorb abgegeben.«
»Der Täter war also ein Profi? Ein Sportschütze? Ein Auftragskiller?«
»Das wissen wir nicht. Der mutmaßliche Täter ist flüchtig.«
»Und der Tote? Ein Einheimischer? Ein Kurgast? Ein Wanderer?«
»Auch das entzieht sich unserer Kenntnis. Das Opfer wird gerade im gerichtsmedizinischen Institut untersucht. Bis die Ergebnisse der Untersuchung vorliegen –«
»Gibt es irgendwelche Hinweise zum Anlass des Verbrechens?«
Jennerwein schwieg beziehungsreich. Doch der Reporter kannte die Spielregeln des Spiels ebenfalls.
»War es ein Eifersuchtsdrama? Raubmord? Läuft es auf Erbschaftsstreitigkeiten hinaus? Geben Sie mir einen Tipp. Einen klitzekleinen Tipp, Kommissar. Ich werde pro Zeile bezahlt. Und ich habe vier hungrige Kinder zu versorgen –«
»Tut mir leid, aber um über die Hintergründe des Verbrechens zu spekulieren –«
» – ist es noch zu früh, sicher. Aber es gibt doch Zeugen?«
»Ja, es gibt Zeugen, deren Aussagen werden immer noch überprüft und ausgewertet.«
Und wie viele Zeugen sie hatten! Mehr als fünfzig aussagebereite, mitteilungsbedürftige Zeugen, die Beckers Inszenierung von der Terrasse aus beobachtet hatten, mit den Münzfernrohren, mit dem Fernglas oder mit bloßem Auge. Regisseur Becker hatte mit seinem Drama nicht eher begonnen, bis endlich ein Kurgast mit dem schwenkbaren Panoramateleskop oben auf der Terrasse der Schröttelkopf-Alm in der Alpenkulisse herumkurvte. Dann erst hatte er das Spektakel unten auf der Wiese in Gang gesetzt.
»Chapeau, Becker!«, sagte Jennerwein im Besprechungsraum, und alle nickten beifällig in die Richtung des spurenlegenden Spurensicherers. Hansjochen Becker grinste und verneigte sich.
»Sie haben gute und schnelle Arbeit geleistet«, fuhr Jennerwein fort. »Man könnte meinen, Sie hätten die letzten Jahre mit nichts
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