Oberwasser
diese Ähnlichkeit. Er war ein wendiger kleiner Mann, er kam stets mit Anzug und Krawatte daher, er bot eine gepflegte, pyknische Erscheinung. Jetzt war er völlig außer Atem. Das Springen über Friedhofsmauern gehörte nicht zu seinen Gewohnheiten.
»Der Obersberger Eugen?«, sagte Ursel. »Der hat uns schon vor zwanzig Jahren im Vertrauen gesagt, dass er, wenn es einmal soweit ist mit ihm, bäuchlings beerdigt werden will, mit heruntergelassener Hose.«
»Was? Mit heruntergezogener Hose?«, keuchte Goldacker. »Ist das überhaupt mit dem bayrischen Bestattungsgesetz vereinbar?«
»Herr Rechtsanwalt«, sagte Ursel und machte auf dicke Wisse. »Wir haben den Artikel 5 immer so ausgelegt, dass der Wille des Verstorbenen höher zu bewerten ist als das sittliche Empfinden der Allgemeinheit.«
»Und was war der Grund für das eigenartige – ich möchte fast sagen: unbillige – Vermächtnis?«, fragte Goldacker.
»Zuerst wollte er es uns nicht sagen, der Eugen. Aber wir haben immer wieder nachgebohrt, und eines Tages ist er damit rausgerückt.«
Sie zeigten auf den Grabstein der Familie Obersberger, so als wäre das Geheimnis, das ihnen der Eugen anvertraut hatte, dort in Stein gemeißelt. Die Erste auf der Grabtafel war eine gewisse Agathe Obersberger ( 1867 – 1921 ), dann ging es hinunter bis zum Eugen. Für den Eugen war aber nicht mehr ganz so viel Platz gewesen, sein Name war am unteren Ende der Tafel ziemlich eingezwängt und hingebatzt. Man wusste schon, was sich die Verwandtschaft gedacht hat: Für den Eugen lohnt sich keine neue Grabtafel.
»Er war auf seine geldgierige Sippe gar nicht gut zu sprechen«, sagte Ursel, »und er wollte ihnen, sozusagen posthum, noch eins auswischen.«
»Und so hat er sich die zehn Jahre bis zu seinem Tod an der Vorstellung ergötzt, dass alle Verwandten, seine Geschwister, mit denen er zerstritten war, seine missratenen Kinder, seine verhasste Frau, alle miteinander, die dereinst zu seinem Grab kommen und dort falsche Kniebeugen machen würden, dass er denen dann dereinst den Hintern entgegen recken könnte.«
»Deswegen ist er so lebenslustig gewesen. Seitdem wir ihm versprochen haben, ihn so einzugraben, hat ihn das Leben wieder gefreut. In den letzten Jahren hat man den Obersberger Eugen auf der Straße lauthals auflachend gesehen.«
»Manche dachten, der ist narrisch geworden. Aber da ist ihm wieder einmal eingefallen, dass noch die Kinder und Kindeskinder seiner garstigen Brut dieses unehrenhafte Defilee werden durchführen müssen.«
»Und?«, fragte Rechtsanwalt Goldacker zerstreut und sah auf die Uhr. »Haben Sie ihm diesen letzten Wunsch wirklich erfüllt?«
»Natürlich, aber die Geschichte geht ja noch weiter. Denn ausgerechnet der Eugen ist zwei Jahre nach seinem Tod exhumiert worden, wegen einer anderen Sache. Kannst du dich daran erinnern, Ignaz? Es ist schon lang her.«
»Ja freilich! Das war Anfang der Neunzigerjahre. Um unseren zehnten Hochzeitstag herum. Die Gerichtsmediziner haben natürlich große Augen gemacht. Ob das denn hier in Bayern so üblich sei, hat ein Preuße gefragt.«
»Wir selbst sind dann in Verdacht gekommen, dass wir schlampig gearbeitet haben. Und weil ein Bestatter von seinem guten Ruf lebt, ist uns nichts anderes übrig geblieben, als die Geschichte aufzuklären.«
»Das Schöne daran aber war, dass es dadurch alle Verwandten erfahren haben.«
»Und das war auch durchaus im Sinne des Verstorbenen, weil jetzt wirklich auch der letzte Obersberger wusste, was der Eugen von ihm gehalten hat.«
»Und wie liegt er jetzt drin?«
»Das ist eine schwierige Frage. Nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung ist er eingeäschert worden. Und weil die Anatomie dabei ziemlich durcheinanderkommt, sind ehrenrührige Haltungen nicht mehr so leicht möglich.«
Maximilian Goldacker hörte nur mit halbem Ohr hin. Er war unkonzentriert, er war in Eile. Seine beiden Mandanten hatten sich gewünscht, noch schnell an ihrer alten Wirkungsstätte vorbeizuschauen, außerhalb der Öffnungszeiten. Er hatte ihnen diesen Wunsch erfüllt, warum auch nicht, es waren ausgesprochen einträgliche Mandanten. Doch die Zeit drängte, er wollte nicht schon beim ersten Mal zu spät kommen.
»Da liegt der Reininger Sepp«, sagte Ursel Grasegger und wies auf das übernächste Grab.
»Den haben Sie wahrscheinlich kopfüber beerdigt?«, unterbrach Goldacker. »Das ist ja alles hochinteressant mit Ihren Geschichten, aber darf ich Sie daran erinnern,
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