Oberwasser
dass wir einen wichtigen Termin haben.«
Ursel und Ignaz Grasegger nickten. Es war ein unangenehmer Gang, aber er musste sein. Sie waren ziemlich nervös gewesen wegen diesem Termin, aber auf dem Friedhof hatten sie sich Ruhe und Kraft geholt. Jetzt verließen sie ihn mit erhobenem Kopf, diesmal durch das Eingangstor. Denn es war inzwischen acht Uhr früh, das Tor war aufgesperrt worden, die ersten Besucher kamen zur Grabpflege.
»Das gibts doch nicht«, sagte die Witt Resl, eine aus der Familie der Baschs. »Hast du die gesehen?«
»Wen denn?«, blinzelte ihre Begleiterin. »Ich habe meine Brille nicht dabei.«
»Das waren doch die Ursel und der Ignaz Grasegger.«
»Und was ist mit denen?«
»Die werden polizeilich gesucht! Schon seit zwei Jahren.«
»Was! Wirklich?«
»Ja, kennst du die Geschichte denn nicht? Die haben für die Mafia Leichen verschwinden lassen. Die haben sie zusammen mit unseren lieben Anverwandten beerdigt. In manchen Särgen sollen fünf tote Italiener drinnengelegen sein.«
»Italiener von der Mafia?«
»Freilich! Er, der Ignaz soll ja zu einem sizilianischen Mafia-Boss aufgestiegen sein.«
»Und was machen wir jetzt? Sollen wir das melden?«
»Erst pflanzen wir die Begonien ein, dann melden wirs.«
»Das glaubt uns doch eh niemand.«
Es wäre auch vollkommen überflüssig gewesen, das zu melden. Ursel und Ignaz Grasegger, die ehemaligen Bestattungsunternehmer, waren gerade auf dem Weg zum Polizeirevier, um sich dort ganz freiwillig zu melden. Momentan marschierten sie, abgesichert von Rechtsanwalt Goldacker, der nervös nach allen Seiten blickte, auf kürzestem Weg dorthin.
»Die Geschichte vom Reininger Sepp, die müssen wir Ihnen noch erzählen, Herr Advokat«, sagte Ursel.
18 .
Zirbelholz, Zirbelholz, Zirbelholz. Im Wohnzimmer einer alteingesessenen Familie. Ein halbes Dutzend solcher Alteingesessenen sitzen um den Esstisch herum und löffeln aus Tellern, in denen eine pechschwarze Suppe schwimmt. Alle, selbst die Frauen, haben einen starken Oberlippenbartwuchs. Einer der Männer trägt zusätzlich einen gezwirbelten Schnurrbart.
Vater Mag noch jemand einen Nachschlag? Es ist genug da.
Lautes Pochen an der Tür. Alle halten erschrocken inne.
Stimme von draußen Machen Sie auf! Polizei! Widerstand ist zwecklos.
Vater Was ist denn los? Wir sind grade beim Tischgebet!
Stimme Man riecht es bis hier draußen!
Mutter Was riecht man?
Stimme von draußen Die frisch geschossene Gams!
Der Mann mit dem gezwirbelten Schnauzbart kriecht hastig unter den Tisch. Der Vater öffnet die Tür, einer der Polizisten kommt herein.
Polizist Aha.
Vater Was: Aha.
Polizist Fünf Leute – sechs Teller.
Die Mutter seufzt. Der Polizist bückt sich und zieht den Wilderer unter dem Tisch hervor.
19 .
Konrad Finger rang nach Luft. Der internationale Topmanager und Vertriebsleiter für halb Europa, der Wildwasser-Liebhaber und Kenner von Strudeln, Walzen und Wasserkaskaden befand sich in einer äußerst misslichen Lage. Ohne dass er sich dagegen wehren konnte, drängten sich ihm Bilder aus seiner Studienzeit in Stanford auf. Er saß in der hintersten Reihe des Großen Hörsaals, ganz vorne konnte er seinen Physik-Professor erkennen, der gerade eine monströse Formel an die riesige Schiefertafel schrieb. Es war die Formel für den Reynolds-Strudel.
Allgemein gilt, dass Flüssigkeitswirbel entstehen, wenn innerhalb eines Fluids ein ausreichend großer Geschwindigkeitsgradient entsteht.
Fingers großer Traum war es gewesen (und war es immer noch), solch ein Modell chaotischer Wirbelströme auf die Business-Welt zu übertragen. Doch jetzt breitete sich wieder eine eigenartige Leere in Konrad Fingers Gehirn aus. Das Wasser der Loisach, das um ihn herum perlte und schäumte, war eiskalt, trotzdem umtoste es ihn liebevoll und lockend, wie gut gekühlter Champagner. Es schien ihm, dass er schon minutenlang nicht mehr geatmet hatte, eher stundenlang. Vielleicht hatte er überhaupt noch nie geatmet, vermutlich war er ein gebürtiger Fisch, der dann später Physik in Stanford studiert hatte. Konrad Finger wusste um seinen momentanen Zustand: Er hatte einen Bewusstseins-Flash, der durch Sauerstoffmangel im Gehirn zustande gekommen war. Der Pallauf-Effekt. Erfahrende Wassersportler kannten so etwas. Und als erfahrener Kajakfahrer wusste er auch, dass er schnell dagegen ankämpfen musste. Doch schon wieder stand sein Physikprofessor an der Tafel, er hatte inzwischen die Form einer rötlich
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