Oberwasser
überflutet.
Er musste sich zusammenreißen. Er stand kurz davor, in die Bewusstlosigkeit abzusinken. Er sammelte alle seine Kräfte und griff zu seinem Brustholster, wie er es im Training tausend Mal geübt hatte. Sofort verspürte er wieder einen brennenden Schmerz, diesmal am Handgelenk. Er biss die Zähne zusammen. Chronische Laryngitis, von wegen. Der Mann hatte keinen Kumpel draußen im Auto, der Mann war gekommen, um Zeugen zu beseitigen. Und der Zeuge war er. Bewegungslos lag er am Boden. Er hatte noch eine allerletzte, verschwindend geringe Chance. Der Killer benützte vermutlich keine Feuerwaffe, auch ein Schalldämpfer war zu laut für einen geschlossenen Raum. Er benützte vermutlich die
Fleißige Liesl
oder eine Injektionsspritze. In beiden Fällen brauchte der Mann ein paar Sekunden, um die Geräte vorzubereiten. Unter dem Schreibtisch befand sich ein Fußschalter, für genau solche Notfälle. Wenn er den drücken konnte, würde innerhalb von wenigen Minuten das Einsatzkommando im Raum stehen. Er machte eine Kriechbewegung in Richtung Tisch. Er machte noch eine. Er erwartete einen Schlag in den Rücken. Doch der Schmerz blieb aus, der andere hinderte ihn nicht am Weiterkriechen. Noch fünf oder sechs Bewegungen, dann war er am Schalter. Er hörte ein Lachen, ein dumpfes, ausgehöhltes, unnatürliches Lachen. Und er kroch und kroch. Und er erreichte den Tisch nicht.
Der Heisere stieß das Röhrchen schnell und gezielt in die Ohrmuschel des bewusstlosen Arztes, dann drückte er die Spritze, und Dr. Patzelt war wohl endgültig im Reich der Schatten. Der Heisere schnaubte verächtlich: 500 mg Thiopental, das sollte für zwei Elefanten genügen. Er ließ sich nicht gerne hinters Licht führen. Dieser Arzt war kein Arzt, das wusste er aus erster Quelle: Das war ein Polizist. Der Heisere verstaute die Spritze, steckte das Hemd in die Hose, ordnete seine Haare, er ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Er machte das sorgfältig und vertrauenseinflößend, genau so, wie es Pontius Pilatus damals gemacht hatte, er vergaß auch die Zwischenräume zwischen den Fingern nicht. Dann verließ er die Kurklinik Dr. Reuschel. Er hinkte jetzt auch gar nicht mehr.
22 .
Frisch und tatendurstig stieg Oliver Krapf, der Jäger der mysteriösen Münze, in Málaga aus dem Zug, er hüpfte nahezu aus dem Eisenbahnwagen, auf dem Bahnsteig drehte er den Kopf in alle Richtungen, wie ein Luchsfuchs, der Fährte aufgenommen hat. Er studierte den öffentlich angeschlagenen Stadtplan und machte sich auf den Weg zur Münzgroßhandlung Juan Padilla.
Eine Münzgroßhandlung hatte er sich imposanter vorgestellt, als ein Riesenlager, aus dessen übervollen Containern Münzen wie aus römischen Brunnen heruntertropften –
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt / Er voll der Marmorschale Rund – Deutsch Grundkurs, Gedichtinterpretation 11 . Klasse. Nur acht mickrige Punkte hatte er damals dafür bekommen. Die
Münzgroßhandlung Padilla bestand aus einem kleinen Büro im Hinterhof, der Mann hinter dem Tresen sprach zum Glück englisch. Den Grundkurs Englisch hatte Krapf mit vierzehn Punkten abgeschlossen. Also auf gehts.
»Es geht um eine Münze, die ich in Fès gekauft habe«, platzte er heraus. »Wahrscheinlich neunzehntes Jahrhundert.«
»Neunzehntes Jahrhundert? Wir sind spezialisiert auf zwanzigstes Jahrhundert, Nazizeit, Francozeit, Fünfzigerjahre. Manchmal liefern wir auch antike Münzen, ungereinigte römische Münzen, von der Kaiserzeit bis zur Spätantike. Aber neunzehntes Jahrhundert – die ist wahrscheinlich nicht von uns. Zeigen Sie mir das gute Stück doch einmal.«
Oliver Krapf hatte, um die Münze nicht aus der Hand geben zu müssen, Vorder- und Rückseite in einem Laden fotokopiert und die Kopie anschließend vergrößert. Auf dieser Kopie hatte er die Stelle mit der geheimnisvollen Gravur mit weißem Papier überklebt und nochmals kopiert. Er legte die beiden Blätter auf den Tresen.
»Dann wollen wir mal sehen, junger Mann. – Sie haben recht: Frühes neunzehntes Jahrhundert, vielleicht auch spätes achtzehntes Jahrhundert. Die Münze ist sicher nicht von uns.«
Der Händler machte eine ungeduldige Geste, so als wollte er sagen: Das wars dann wohl.
»Ist es eine seltene Münze?«, fragte Krapf.
Der Händler lachte.
»Selten? Die gibts wie Sand am Meer.«
Der Händler richtete sich auf und sah Oliver Krapf fest in die Augen.
»Sie ist absolut wertlos.«
»Echt?«
Krapf
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