Oberwasser
gleich in der nächsten Seitenstraße durchsuchten und den Irrtum bemerken? Oliver Krapf hatte es auf einmal sehr eilig. Er lief schnell in die andere Richtung, stieß bald auf eine belebte Hauptstraße, er hielt ein Taxi an, ließ sich zum Bahnhof fahren, gab an der dortigen Poststation ein wattiertes Päckchen in Richtung Heimat auf. Er küsste die Münze zum Abschied. Dann löste er eine Zugkarte. Zweite Klasse, eine Person, einfach. Vor allem einfach.
Bis zur Abfahrtszeit musste er noch zwei quälende Stunden im Warteraum des Hauptbahnhofs von Málaga verbringen. Allerlei wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Münzräuber? Die nur auf seine Münze aus waren? Nein, der Überfall war sicher nur Zufall gewesen. Der Überfall konnte mit der Münze nichts zu tun haben. Trotzdem wollte er hier weg. Auf schnellstem Weg. Plötzlich zuckte Krapf zusammen und stöhnte zornig und enttäuscht auf. In den geraubten Ablenkungsbrustbeutel hatte er die beiden Kopien von der Münze gesteckt. Aber warum regte er sich auf? Sie waren für die Diebe vollkommen wertlos. Das Pärchen war sicherlich ausgesprochen wütend, auf diese Weise vorgeführt zu werden. In wenigen Minuten fuhr sein Zug. Da vorn, zwei junge Leute in Lederkluft – aber nein, Entwarnung, das waren sie nicht. Schließlich saß er im Zug. Er war jetzt fast pleite, aber er befand sich gesund und wohlbehalten in einem voll besetzten Zugabteil. Münze und Fotokopien? Die brauchte er nicht, er kannte die Münze inzwischen auswendig. Der Besuch in der Münzgroßhandlung Juan Padilla fiel ihm wieder ein. Irgendetwas arbeitete in Krapfs Kopf. Der Besuch war ohne Ergebnis geblieben. Oder vielleicht doch nicht? Hatte er etwas übersehen?
Valencia flog draußen vorbei. Der Händler war ein Dampfplauderer, sonst nichts. Er war nicht einmal imstande gewesen, die Münze zeitlich und räumlich einzuordnen. Aber irgendeinen, vielleicht gar nicht so geringen Wert musste die Münze doch haben, sonst hätte er ihm nicht zwanzig Euro geboten. Irgendwo zwischen Barcelona und Cannes tauchte ein nebelhafter Redefetzen des sonderbaren Händlers auf:
»Da hat jemand etwas – wie sagt man –
abrillantar
– wegpoliert.«
Der Fleck auf der Kopie. Der Händler hatte seine Abdeckung auf dem Papier für einen Fleck auf der Münze selbst gehalten. Aber natürlich! Diese Möglichkeit hatte er bisher überhaupt noch nicht bedacht: Die Inschrift war nicht gemacht worden, um auf etwas hinzuweisen, sondern um von etwas abzulenken! Vielleicht war auf der Münze etwas zu sehen gewesen, was aus irgendeinem Grund wieder entfernt werden musste. Wegpoliert, abgekratzt, abgefeilt, wie auch immer. Um davon wieder abzulenken, war der leere Fleck beschriftet worden! Natürlich! Krapf war wieder im Fieber. Was hätte er jetzt darum geben, die Münze in der Hand zu halten. Krapf saß im vollbesetzten Abteil, und die anderen Fahrgäste begannen schon über ihn zu tuscheln. Er schüttelte den Kopf. Vermutlich war das alles Unsinn mit der weggekratzten Stelle. Was sollte das auch für einen Sinn haben? Er entspannte sich wieder. In Genf gab es eine halbe Stunde Aufenthalt. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Zug zu verlassen und in ein Internetcafé im Bahnhofsbereich zu gehen. Er tippte hastig ein paar Daten ein. Und seine Augen weiteten sich: Der Graf von Aragon, Großherzog von Navarra, Spanier durch und durch, hatte um 1790 tatsächlich Besitzungen in Baden-Württemberg gehabt. Randnotiz: In dieser kurzen Zeit wurden gemeinsame Münzen geprägt. Noch eine Randnotiz: Es gab heutzutage nur noch ein knappes Dutzend von ihnen auf der Welt. Jeder einzelne dieser Silber-Escudos war von unbezahlbarem Wert.
»Gehts Ihnen nicht gut?«, fragte eine Frau kurz nach Zürich.
»Sommergrippe«, krächzte Krapf.
23 .
Ignaz Grasegger setzte sich als Erster auf die kleine Wartebank im Foyer des Polizeireviers, Ursel nahm neben ihm Platz.
»Wahrscheinlich können sie es gar nicht fassen, dass wir gekommen sind.«
»Vielleicht sitzen die gerade beim Frühstück. Weißt du noch, Ursel: Beim Padrone Spalanzani, damals in Palermo, da hat es ein Frühstück gegeben, da läuft mir heute noch das Wasser im Mund zusammen –«
»Ruhig! Ruhig!«, zischte Rechtsanwalt Goldacker. »Nicht hier, nicht in einem Polizeirevier! Nichts von Palermo, nichts von Padrone Spalanzani. Nicht in Ihrer Lage!«
»Ist ja schon recht, Herr Advokat. Wir sind ja schon ruhig.«
»Aber hast du schon einmal in die
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