Oberwasser
schon sagen: Wir haben die Bewohner des Kurorts richtig gut beschäftigt. Becker hat ganze Arbeit geleistet. Und wo unser Wilderer schon überall gesehen worden ist! An den unmöglichsten Stellen –«
Nicole zögerte.
»Raus mit der Sprache!«, sagte Jennerwein.
»Glauben Sie denn wirklich, dass uns der Phantom-Wilderer zu dem Versteck von Dombrowski und Weißenborn führt?«
»Natürlich nicht direkt«, entgegnete Jennerwein. »Sehen wir es so: Das ganze Dorf denkt praktisch für uns mit. Wir haben dreißigtausend Hilfssheriffs, die für uns arbeiten.«
»Gut«, fuhr Nicole fort, »ich habe eine Liste mit möglichen Verstecken erstellt, die sich aus den Hinweisen der Bevölkerung ergeben. Die absurdesten, wie zum Beispiel die Polizeidienststelle, das Feuerwehrhaus oder die Apotheke habe ich gestrichen.«
Nicole legte einen Ordner auf den Tisch.
»Diese Adressen sind übrig geblieben. Ich habe die Liste sofort mit der von Ostler und Hölleisen abgeglichen. Die beiden haben einheimische Familien gesucht, die in irgendeiner Weise aufgefallen sind.«
»Zum Beispiel durch plötzlichen Wohlstand«, fügte Ostler hinzu. »Wir haben unsere Ergebnisse schon gestern Abend verglichen. Und ein Name taucht in allen drei Listen auf. In der von Stengele, in der von Nicole, in der von uns: Der Hartl-Hof, der Hartl-Hof, der Hartl-Hof.«
»Auf den Hartl-Hof zeigen alle Vektoren hin«, sagte Hölleisen. »Das sehe ich auch so«, sagte Stengele. »Er ist direkt neben der Kirche gelegen, an zwei Stellen über den Kirchhof und an drei Stellen von der Straße her erreichbar. Das Haus selbst ist denkmalgeschützt bis in den letzten Ziegel, da ist seit dreihundert Jahren nichts mehr verändert worden. Was da für unterirdische Gänge sein können, daran will ich gar nicht denken.«
»Und dann der Hartl Peter selber«, sagte Ostler seufzend. »Unser Problemkind im Ort. Ist gegen alles, prinzipiell. Hat aber eine gute Rechtsberatung, hat schon viel Prozesse gegen die Gemeinde gewonnen. Ein Sturschädel, wie er im Buch steht.«
»Da gehen wir rein!«, sagte Stengele und war schon halb in der Jacke.
»Moment, Moment«, sagte Jennerwein. »Da gehen wir auf keinen Fall offen rein. Wir wollen doch nicht die Gefangenen gefährden, die sich möglicherweise dort drinnen befinden.«
»Außerdem ist das gar nicht so einfach«, sagte Hölleisen. »Der nimmt auch schon mal ein Gewehr zur Hand.«
»Morgen ist doch der 24 . Juni, also Johannistag?«, fragte Nicole Schwattke unvermittelt. Alle blickten sie verwundert an.
»Ja freilich ist morgen Johanni«, sagt Ostler. »Alte Bauernregel:
Stich den Spargel nie – mehr nach Johan-ni!
Aber was hat das mit unserem –«
Das Telefon klingelte. Ostler ging hin. Nachdem er aufgelegt hatte, schüttelte er erst einmal nur verdattert den Kopf.
»Wir bekommen Besuch. Und zwar einen Besuch, den wir jetzt überhaupt nicht, aber sowas von überhaupt nicht brauchen können!«
Er schaute in eine erstaunt blickende Runde. Wer um alles in der Welt mochte das wohl sein, der den gestandenen Polizeiobermeister Ostler so ins Schwitzen brachte?
21 .
Die Kurklinik Dr. Reuschel lag in der Mitte des Ortes, nur ein paar Gamsbocksprünge vom Hartl-Anwesen entfernt. Es war ebenfalls ein altes Gemäuer, mit viel Efeu und Goldregen überwachsen – die Kurklinik hatte Stengele als Versteck gestrichen, hier war ja schon ein trojanischer BKA ’ler platziert worden. Über der wuchtigen Eingangstür prangte das auffällige Logo der Kurklinik. Es war eine geschwungene Fieberkurve, die schon zu manchen Spekulationen Anlass gegeben hatte. Mit dem Normalwert von 36 , 0 °C begann sie, die beschriftete Kurve, dann stieg das Fieber des Patienten ruckartig auf 38 , 6 °C, um innerhalb weniger Stunden auf akzeptable 37 , 5 °C zu sinken. Malaria? Typhus? Das Sinken der Temperatur kam wohl durch eine milde Gabe von 200 mg Paracetamol zustande. Dann stieg das Fieber jedoch wieder, diesmal sogar auf dramatische 39 , 1 °C, um gleich wieder zu fallen. Der übliche Stabilisator, ein lytischer Cocktail aus Atosil, Aspirin und Dolantin brachte aber wohl nichts, die Kurve kletterte in einen lebensgefährlichen hyperpyretischen Bereich von 41 , 3 °C. Die Kurve flatterte und landete schließlich bei 42 , 1 °C. Milzbrand? Beulenpest? Die Kurve führt jetzt steil abwärts, wie bei einem jähen Kreislaufversagen. Viele, die diese Kurve als Krankheitsbild gedeutet hatten, mussten sich darüber belehren lassen, dass
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