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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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sie, gestaltet von einem gewitzten Werbegrafiker, etwas ganz anderes bedeutete –

    - nämlich wieder nichts anderes als die Silhouette des Werdenfelser Landes, mit der gefällig aufragenden Alpspitze links und den beiden wuchtigen Waxenstein-Kegeln rechts.
     
    Vor der Eingangstür der Kurklinik Dr. Reuschel stand ein Besucher. Er sah nicht so aus, als ob er sich zu einer Ayurvedafußmassage angemeldet hätte. Er war unrasiert, das Hemd hing ihm aus der Hose. Er hatte die Hand schon zur Türklinke ausgestreckt, da trat er nochmals zurück und hob den Kopf, um das Logo zu betrachten. Er schien nicht recht schlau daraus zu werden. Kopfschüttelnd öffnete er die schwere Buchentür und trat hinein, ohne sich umzusehen. Er hinkte leicht. Er hinkte an der unbesetzten Rezeption vorbei, und er hinkte die Treppe hinauf. Er wusste ohnehin Bescheid, sein Ziel war Zimmer 112 , das Behandlungszimmer eines gewissen Dr. Patzelt.
     
    »Herein!«, sagte der gewisse Dr. Patzelt. Im Raum stand ein Schreibtisch, ein Regal mit Lexika, einige Tische mit Apparaturen, im Hintergrund war ein kleiner Operationstisch zu sehen. Der hinkende Mann warf einen kurzen Blick darauf, und ein kleines Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus. Der Arzt bot dem Besucher einen Stuhl an. Der Mann setzte sich nicht.
    »Sind Sie verletzt?«, fragte Dr. Patzelt.
    Der Mann schwieg. Er starrte ihn an.
    »Können Sie mich nicht verstehen?«
    »Ich verstehe Sie gut«, sagte der hinkende Mann, und er sagte es ohne jeden Akzent. Eigentlich flüsterte er es, er krächzte es, er war heiser wie ein Turnlehrer nach der sechsten Schulstunde. Er deutete auf seine Kehle.
    »Chronische Laryngitis. Muss flüstern. Seit Monaten.«
    »Sehr unangenehm.«
    Der Mann nickte.
    »Aber hören Sie, Kehlkopfentzündungen sind nicht mein Spezialgebiet.«
    »Ich weiß. Deswegen bin ich auch nicht hier.«
    Der hinkende Mann schwieg, der Arzt schwieg. Draußen zwitscherten die Vögelchen, und als sie ebenfalls schwiegen, hörte man, wie sich der Efeu hochrankte. Der Heisere kam ihm irgendwie bekannt vor. Er ähnelte einem Mann, den er schon vor ein paar Monaten behandelt hatte.
    »Dann wollen wir mal das Finanzielle besprechen«, sagte Dr. Patzelt. »Sie zahlen erstens bar, und zweitens vor der Behandlung, sonst läuft hier gar nichts.«
    Der Mann nickte. Der Arzt ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Händewaschen schafft Vertrauen, es wirkt kompetent und zielgerichtet. Schon Pontius Pilatus hatte auf diesen Effekt gesetzt. Dr. Patzelt betrachtete seine tropfnassen Hände. Er betätigte nochmals den Seifenspender, reinigte abermals sorgfältig die Zwischenräume zwischen den Fingern, er trocknete seine Hände genauso sorgfältig ab.
    »Sind Sie selbst der Patient?«, sagte er über die Schultern, als er das Papierhandtuch in den Klappeimer warf.
    »Nein. Mein Kumpel. Draußen im Auto.«
    Na prima, dachte Dr. Patzelt, die Dienste, die die Kurklinik anbot, mussten sich in der Szene herumgesprochen haben. Das Geschäft kam ins Rollen, die Kundschaft wuchs.
    »Wenn ich meine Praxis verlassen muss, kostet das extra. Und jetzt sagen Sie mir, um was es geht. Für eine Schusswunde muss ich nämlich einen anderen Koffer packen als für einen Messerstich.«
    Messerstich. Messerstich. Der Mann damals hatte ebenfalls eine Stichwunde gehabt. Und der Verletzte damals war ein Profi gewesen. Er hatte darauf bestanden, alle Instrumente und Verbände zu behalten, nachdem die Operation erfolgreich beendet und die Wunde verbunden war. Es war ein Durchstich durch den Oberschenkel mit einem gezackten Messer gewesen. Auch das herausgelöste Messer hatte der Mann eingewickelt und mitgenommen. Äußerst umsichtig, äußerst professionell. Messerstich. Messerstich! Jetzt klickte etwas in Dr. Patzelts Schaltzentrale. Der Mann hier war der Verletzte von damals! Das war er hundertprozentig! Damals hatte er zwar nicht gekrächzt, damals hatte er mit Akzent gesprochen, aber es war zweifellos derselbe Mann. Äußerste Vorsicht, Alarmstufe Ro – und in dem Moment spürte er einen harten Schlag in die Seite, der ihm den Atem nahm. Zwei, drei Sekunden der Unaufmerksamkeit hatten genügt, um sich den Leberhaken einzufangen. Er ging zu Boden. Er schnappte nach Luft, er war zu keiner Gegenreaktion fähig. Solch ein Schlag in die Seite presste das Blut aus der Leber, verkrampfte die Gefäßmuskulatur, lähmte den Angegriffenen vollständig. Sein ganzer Körper war von Serotonin

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