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Oberwasser

Oberwasser

Titel: Oberwasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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Spracherkennungs-Software. Er schlenderte den langen Zug zweimal auf und ab, jetzt schon vollständig gelockert. Und weil Krapf ein hübscher Knabe war, nickten ihm ein paar Mädchen sirenenhaft aufmunternd zu. Er beachtete sie nicht. Natürlich nicht, so kurz vor Ithaka hatte es Odysseus auch eilig gehabt.
     
    Endlich fuhr der Zug in den heimatlichen Bahnhof ein. Er musste sich zwingen, nicht gleich loszuspurten, um noch schneller an seinem heimatlichen Rechner zu sitzen. Was war das bloß für eine abartige Idee gewesen: eine Reise ohne digitale Unterstützung zu machen! Wie wenn Columbus damals mit einem Schlauchboot losgefahren wäre. Er sprang aus dem Zug. Er sprang aus der S-Bahn. Er riss den Briefkasten auf. Natürlich war die Münze noch nicht angekommen. Er stürmte hinauf in seine Schülerbude, die ihm seine Eltern gemietet hatten. Schon seit ein paar Monaten wohnte er allein, darüber war er jetzt sehr froh. Er konnte gleich loslegen, ohne von neugierigen Altvorderen mit bistjagarnichtbraungeworden-Sprüchen gestört zu werden. Er fuhr den Rechner hoch, setzte inzwischen eine SMS ab:
Hi Tina, es geht mir gut. Bitte nichts an meine Eltern, OK ? Gr. O.
Er schickte die SMS ab, dann fiel ihm ein, dass Tina wegen der Digital-Askese nichts dabei hatte, womit sie eine SMS empfangen konnte. Wo sie wohl sein mochte? Sein Display blinkte auf.
Mir gehts auch gut
, simste Tina zurück,
sind gerade am Strand von Casablanca.
Also doch, dachte Krapf. Tina, du kleines Biest.
     
    Die Programme waren hochgefahren, und jetzt konnte man den wahren, den echten, den authentischen Krapf sehen, den Krapf, der quasi mit dem Rechner verwuchs, der eine selbstverständliche Einheit mit ihm bildete, der hineinkroch in die unendlichen Weiten des unbegrenzten Informationsmeeres, eine Art Zentaur: halb Mensch, halb stierköpfige Maschine. Er prüfte es nochmals nach: Der Graf von Aragon, Großherzog von Navarra, hatte um 1790 Besitzungen in Baden-Württemberg gehabt, das stimmte. Im März 1790 wurden ein paar Hundert alemannisch-spanische Silber-Escudos (schwäbisch: »Krischperle«) geprägt. Es gab heutzutage nur noch ein knappes Dutzend von ihnen auf der Welt, und jeder einzelne von ihnen war von unbezahlbarem Wert. Oliver Krapf lehnte sich zurück und überlegte. Wenn das wirklich so war, dann konnte er es ohnehin nicht mehr verheimlichen. Dann musste er den Wert offiziell und für alle sichtbar schätzen lassen. Wo aber sollte er hingehen? In ein Briefmarken- oder Münzengeschäft im Bahnhofsviertel? In eine Bank? Ein Auktionshaus – das war vielleicht das Richtige. Die hatten Münzgutachter, das waren weisungsgebundene Bürofuzzis und keine spanischen Brustbeutelschneider. Er verbrachte die nächste Stunde damit, ein Auktionshaus mit einer großen Münzabteilung zu suchen. In Frankfurt, in der Stadt des Geldes, fand er eines, wo sonst. Er vereinbarte einen Termin für den nächsten Tag, um 13.00  Uhr. Der Zug nach Frankfurt ging um 9.15  Uhr, er hoffte, dass die Münze bis dahin schon mit der Post gekommen war. Oliver Krapf schlief diese Nacht schlecht.
     
    Er schlief gar nicht. Nach zwei Sekunden Bettruhe sprang er wieder auf und setzte sich an seinen Arbeitsplatz. Bis zum Morgengrauen gab er Unmengen von Buchstaben- und Zahlenkombinationen in den Rechner ein: LUKM , LUKA , LUKAA , LOKM , LOKA , LOKII , LOKIII , LOAIII , LUV ??, LOV !!, LOVEII . Das meiste ergab überhaupt keinen erkennbaren Sinn, aber mehrstellige Zeichenkombinationen in den Computer zu tippen war eine wunderbare Möglichkeit, eine schlaflose Nacht zu überbrücken. Ein paar Kombinationen ergaben sogar Sinn und führten zu Ergebnissen. LOKM etwa war der Titel einer unveröffentlichten Jethro-Tull-Scheibe. LDMIII war eine römische Zahl. LDMII . 1 war ein interessanter Artikel im weltweit anerkannten
Lexikon des Mittelalters
. Brachte ihn das irgendwie weiter? Nein, überhaupt nicht. Bis zum Morgengrauen hockte er vorm Rechner, blass und zittrig, um Viertel nach neun saß er im Zug nach Frankfurt, diesmal mit einer brennenden Münze in der Tasche. War das Ganze nicht eine Nummer zu groß für ihn? Sein Mobiltelefon summte. SMS von Tina:
Wir hängen noch ein paar Tage dran.
Seine Antwort:
Schön für euch.
Er hatte vor, bei seiner Bank ein Schließfach zu mieten und die Münze dort zu deponieren. Wie viele Mitarbeiter würde er anwerben, um die weltweit operierende Softewarefirma aufzubauen? Wie würde er seine Firma überhaupt nennen? Krapf’s? Das hörte

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