Oberwasser
aus oder von dort drüben, von der Eisenbrücke aus, beobachtet?«, schrie sie.
»Das müssen wir riskieren«, schrie Becker zurück.
Zusätzlich zu seiner Anglertätigkeit warf er bei jeder Aussichtsplattform kleine Kapseln ins Wasser, die sich auflösten und das Wasser für ein paar Sekunden maisgelb verfärbten.
»Habe ich selbst entwickelt«, rief Becker stolz. »Man kann die Geschwindigkeit, mit der sich Strudel in die Tiefe drehen, auf diese Weise ganz gut erkennen. Sehen Sie, dort! Da muss einer sein.«
»Sie sind ein Teufelskerl, Becker. Was für eine Note hatten Sie in Physik?«
»Eine Vier, eigentlich sogar eine ziemlich mühsame Vier minus.«
»Ganz typisch.«
Nach einer knappen Stunde hatten sie schon die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Becker säte gelbe Samen und angelte mit Stahlködern. Nicole knipste. Die Touristen, die in beiden Richtungen vorbeiströmten, beachteten sie nicht weiter. Die Besucher der Höllentalklamm hatten genug mit dem Naturschauspiel zu tun.
»Schade, dass wir Fritz nicht mitnehmen konnten.«
»Ich glaube, der hätte hier keine große Freude gehabt. Das viele Wasser, das alle Geruchsmoleküle wegstäubt, das ist nichts für feine Hundenasen.«
»Das stimmt wohl. Abgesehen davon hat seine Nase vierzehn Tage Erholungsurlaub. – Und wie kommen Sie selbst voran?«
»Ich habe bereits drei oder vier Strudel gefunden, bei denen es durchaus möglich wäre, dass sie in unterirdische Höhlungen reichen. Die Idee von Jennerwein – beziehungsweise den Graseggers – ist zwar auf den ersten Blick verrückt, aber theoretisch wären größere Unterspülungen mit Luftblasen schon möglich.«
»Wenn es wirklich so ist – warum sind nicht schon früher Leute draufgekommen, dass sich dort unten Höhlen befinden?«
»Vielleicht sind sie draufgekommen. Und jetzt stecken sie in diesen Höhlen.«
In der Mitte der Klamm war das Schauspiel, das das Wasser bot, gigantisch. Becker hatte keine Augen dafür. Er warf seine übliche Angelschnur ins Wasser. Nicole stellte ihren schweren Rucksack mit den technischen Geräte, Funkapparaten und Kletterhilfen ab.
»Aha«, sagte Becker, als er die Schnur wieder hochgezogen hatte.
»Was, aha?«, sagte Nicole.
»Eine Kugel ist unten hängengeblieben. Sie hat sich von der Schnur losgerissen. Ich habe den Kugeln Sendern verpasst. Wir werden sie im Auge behalten, diese verlorene Kugel.«
Becker klappte sein wasserunempfindliches Notebook auf und tippte etwas hinein.
Sie waren im unteren Drittel der Klamm angekommen. Das Wasser rauschte nicht mehr gar so stark, man musste sich nicht mehr anschreien.
»Ich habe vier oder fünf Strudel in die engere Wahl gezogen.«
»Und wir testen alle aus? Wir gehen da richtig rein?«
»Ja. Gisela geht da rein. Das müssen wir nachts machen. Nur der Mond wird uns zusehen.«
»Und wie bringen wir Gisela und das ganze technische Equipment unauffällig hierher?«
»Das soll der Chef entscheiden.«
Nicoles Blick ging nach oben, die Steilwand hinauf, die gut hundert Meter hoch war.
»Können wir uns nicht von dort oben abseilen?«
»Die Felsen runter? Da sind wir im Blick- und Schussfeld von so ziemlich allen dunklen Mächten, die es auf der Welt gibt.«
53 .
Er schleppte sich mühsam zurück, zur letzten Ruhestätte der braven Artilleristen aus dem deutsch-französischen Krieg von 70 / 71 . Seine Knie zitterten, er atmete schwer, Hitzeschauer überliefen ihn. Er war zutiefst verstört. Zitternd setzte er sich auf seine notdürftig eingerichtete Lagerstatt. Er hatte Stimmen gehört, er war ihnen nachgegangen, und seine überlastete Phantasie hatte die Personen dazu erfunden. So weit waren die Halluzinationen also inzwischen fortgeschritten.
Die Kinder drehten sich nach und nach um, auch der Geschichtenerzähler wandte den Kopf in meine Richtung. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie alle blind waren. Statt der Augen waren nur kleine, wässrige Schlitze zu sehen, die offenbar keinerlei Funktion mehr besaßen. Die Menschen in den Tierfellen konnten den brennenden Ast, den ich in der Hand hielt, nicht sehen, sie spürten und erschnupperten lediglich dessen Wärme und Geruch.
»Wer ist das?«, fragte eines der Kinder und deutete mit der Hand in meine Richtung. »Einer von draußen«, sagte der Mann und wandte sich wieder ab. »Ist er gefährlich?«, fragte ein anderes Kind. »Nein, er ist harmlos«, beruhigte der Mann. »Er ist schon sehr schwach. Wir müssen ihn bald töten.« Sie beachteten mich
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