Oberwasser
ist.
Die beiden Wanderer, die jetzt dort innehielten, waren eben von der Höllentalangerhütte den alten Grubenweg heruntergestapft. Man hätte sie durchaus für Hochgebirgsbergsteiger halten können, die gerade vom Nanga Parbat gekommen waren, solche Monsterrucksäcke hatten sie umgeschnallt.
Hansjochen Becker trat an das Schild und las es. Er blickte blinzelnd nach oben.
»Und jetzt, zack, ein riesiger Felsbrocken«, sagte Nicole Schwattke.
»Self-Fulfilling Prophecy«, nickte der Chef der Spurensicherer.
»Wie bei der Paartherapie. Da ist es genauso. Gleich nach der ersten Sitzung fangen die Probleme erst so richtig an.«
Becker nickte nachdenklich. Sie stapften weiter nach unten und kamen bald in die Schluchtöffnung, in der das Bächlein zum Bach wurde und lautstark zu rumoren begann.
»Hier oben könnte man sogar noch Kajak fahren«, sagte Nicole. »Oder Floß.«
»Könnte man, ja. Aber empfehlenswert ist es nicht. Wenn das Gefährt weiter hinunter getrieben wird – ich für meinen Teil möchte jedenfalls nicht drin sitzen.«
Sie stapften weiter.
Ende des 19 . und Anfang des 20 . Jahrhunderts war oberhalb der Höllentalklamm Molybdän abgebaut worden, ein seltenes Metall, nicht so beständig wie Eisen, nicht so weich wie Blei, nicht so wertvoll wie Gold, aber es hatte sich gelohnt, zu graben und Schächte einzurichten, in einer Zeit, in der es noch keinen bequemen Zugang in die Klamm gegeben hatte. In den Zwanzigerjahren wurde der Abbau aufgegeben, und die Höhlen und Schächte verrotteten langsam. Man konnte in den Felswänden noch einige Reste der Stollen erkennen, faulige Holzsplitter, herausragende rostige Befestigungsstangen, eingezogene Querbalken mit aufgemalten Zahlen, die die Jahrzehnte überdauert hatten.
»Becker, Sie wandelndes Lexikon der Technik – wofür braucht man denn dieses Molybdän? Ich habe noch nie davon gehört.«
»Damit härtet man zum Beispiel Stahl, in der Waffenherstellung spielt das eine Rolle. Im ersten Weltkrieg war das sogar kriegsentscheidend. Jetzt sind die Stollen eingefallen.«
Nicole fotografierte und filmte hochkonzentriert. Wenn die beiden Verschwundenen wirklich hier in den Felsen versteckt waren, dann war äußerste Eile geboten. Becker hatte vor, in der Klamm unauffällig Sonden ins Wasser hinabzulassen, um die Tiefe und die Beschaffenheit der Aushöhlungen zu messen. Er hatte ein paar Bücher über Strömungslehre gewälzt, einige Gesetze der Wellen und Walzen in einem Simulationsbecken ausprobiert. Er hatte mit ein paar Kollegen telefoniert, die sich im Wildwassersport auskannten. Er fühlte sich ziemlich gut vorbereitet.
»Wir suchen ganz bestimmte Wassergefälle, nämlich solche, die alles nach unten ziehen, was nicht niet- und nagelfest ist, um das Zeug dann unten mit einem Gegenstrudel festzuhalten. Eine Strömung in der Strömung sozusagen – der Reynolds’sche Strudel.«
»Burt Reynolds? Bruce Reynolds? Debbie Reynolds?«
»Nein. Osborne Reynolds, 1842 bis 1912 , britischer Physiker, König der reibungsbehafteten Strömungsvorgänge.«
»Ach, deshalb.«
»Wenn Sie sich ein chaotisches, also nicht gleichmäßig fließendes Liquid vorstellen –«
»Ersparen Sie mir jetzt Details und Formeln, Becker. Zeigen Sie irgendwo hin, ich fotografiere das dann.«
Die Klamm tobte jetzt schon ordentlich, sie war an den engsten Stellen nur noch wenige Meter breit, das alles konnte man von dem in den Fels gehauenen Steig gut beobachten. Sie traten auf eine kleine Aussichtsplattform, die den Blick freigab auf das grandiose Naturschauspiel der Höllentalklamm. Das ungewöhnlich starke Gefälle in der schaurig-düsteren Schlucht ließ die Wassermassen herunterdonnern und aufblühen zu Gischtfontänen, Wassersprudeln und regenbogenfarbigen Seitenschlägern, die an die Felswände spritzten.
»Und aus all dem wäre um ein Haar eine Partymeile geworden?!«, schrie Nicole. Auf andere Weise konnte man sich nicht verständigen.
»Oder die größte Rutsche des Universums!«, brüllte Becker zurück.
Der Kriminaltechniker hatte seinen Riesenrucksack abgestellt und kramte darin herum, holte schließlich eine sehr speziell aussehende Vorrichtung heraus, die am ehesten mit einer Angelausrüstung vergleichbar war, nur dass der Köder aus einer faustgroßen Stahlkugel bestand. Er warf die Kugel ins Wasser und zog sie an einer hauchdünnen Polyethylenfaserschnur wieder heraus. Nicole fotografierte.
»Und wenn uns jemand von dort oben, von der Felskante
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