Oberwasser
nicht weiter. Ich floh in Panik. Ich kam jedoch nur langsam voran.
Er konnte sich an jedes einzelne Wort erinnern. An jede Silbe. An jede Betonung. Das war kein gutes Zeichen. Das war die subtilste und perfideste Stufe der Folter, die er bisher erlebt hatte. War das alles das Werk des Weißkittels? Unglaublich, welch ein Aufwand getrieben wurde, um ihn zu einer Aussage zu zwingen. Vielleicht war er aber auch lediglich Versuchskaninchen für abartige Forschungen. Er durfte diesen Stimmen nicht mehr nachgehen. Das alles spielte sich doch nur in seinem Kopf ab! Er machte Liegestütze, Armdehnübungen. Körperlich kam er langsam wieder in Form, aber sein Geisteszustand war bedenklich. Waren das Auswirkungen dieses Salewski-Effekts? Dessen kriminologische Anwendung hatte er schon einmal mitverfolgen können, bei einem Banküberfall in Minsk. Die Bankräuber hatten Geiseln genommen, saßen schon im Auto mit ihnen, sie stellten Forderungen, man war in der heißen und gefährlichen Verhandlungsphase. Einer der Polizeipsychologen hatte kurzerhand das städtische Ballettensemble angerufen. Die Tänzer sollten in Privatkleidung erscheinen, sich unter die gaffende Menge mischen, um dann, aus der Normalität heraus, langsam zu tanzen und zu posieren. Die Ensemblemitglieder erfüllten ihre Aufgabe hervorragend, vor allem übertrieben sie nicht, das war das Beste dabei. Man hätte die Tänzer am Anfang gar nicht als solche erkannt, sie kamen als gaffende Passanten, als herumspazierende Müßiggänger. Dann begannen ihre Bewegungen langsamer, eleganter, kunstvoller zu werden. Aus einem normalen Gehschritt wurde eine komplizierte Biegung des Körpers. Langsam verzerrte sich für die Banditen im Auto die Wirklichkeit so stark, dass sie unaufmerksam wurden. Der Schlafentzug war der erste Schritt, die Ballettszenen taten ein Übriges. Die Bankräuber starrten entgeistert und ungläubig auf die unnatürlichen Bewegungen da draußen, der eine ließ sogar die Waffe sinken. Sie konnten leicht überwältigt werden. Schließlich waren sie froh, dass es zu Ende war.
Ich erinnere mich noch gut an die unwirklichen Szenen, das war angewandter Psychoterror vom Feinsten. Damals war ich noch Polizist gewesen. Ich war bei den Spezialeinsatzkräften, die den Befehl zum Zugriff bekommen hatten.
Die Erinnerung an Minsk verblasste langsam. War es überhaupt in Minsk gewesen? Liegestütze. Und schreiben. Nur dann konnte er klar denken und hörte keine Stimmen mehr. Doch die Stimmen kamen wieder. Er war nicht mehr fähig, den Stift zu halten. Er hatte auch gar nicht mehr die Kraft, seine Gedanken zu ordnen und sich Notizen zu machen. Er hatte bis zum Schluss gehofft, dass sie ihn hier rausholen würden. Er musste die Hoffnung langsam aufgeben. Die Hitzewallungen des Fiebers schüttelten ihn in regelmäßigen Abständen, er wusste, dass es langsam zu Ende ging mit ihm. Mühsam nahm er einen der Lumpen, mit denen er seinen nackten Körper bedeckt hatte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch die Halluzinationen waren inzwischen so stark geworden, dass er sich kaum mehr dagegen wehren konnte. Und schon wieder hörte er Schritte, die sich näherten. Es war der Mann, der den Kindern Geschichten erzählte, der ihre Fragen beantwortete, und der jetzt gekommen war, um ihn zu töten. Der Mann war diesmal in ein schwarzes, glattes Tierfell gehüllt. Das war wohl eine letzte, makabre Variation der Psychofolter. Der Weißkittel hatte sich als Gevatter Tod verkleidet, beugte sich jetzt zu ihm herunter, fasste ihn am Kinn und hob seinen Kopf hoch. Es war das erste Mal, dass die Halluzinationen so weit gingen, dass er Berührungen spürte. Es musste schon sehr schlecht um ihn stehen. Jetzt vernahm er Kinderstimmen.
»Warum können wir den Mann nicht weiterleben lassen?«
»Er ist verrückt geworden.«
»Warum werden denn alle verrückt?«
»Sie kommen aus einer anderen Welt. Sie verstehen unsere Welt nicht.«
»Kann er nicht verrückt weiterleben?«
»Nein, er ist eine Gefahr für uns, so verrückt wie er ist. Wir müssen ihn töten. Wir können nur die weiterleben lassen, die in unserer Welt hier zurechtkommen.«
54 .
Wenn man so lange in Italien gelebt hatte wie Ursel und Ignaz Grasegger, dann will man nur noch auf der Terrasse sitzen. Auf der Veranda, auf dem Balkon – Hauptsache draußen und trotzdem nah am schützenden Haus. Umgekehrt müssten all die italienischen Familien, die in Bielefeld lange Jahre eine Trattoria betrieben hatten, wieder
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