Oblomow
Kind lauscht ihr, die Augen öffnend und wieder schließend, bis der Schlaf es endlich ganz überwältigt. Dann kam die Kinderfrau, nahm es von dem Schoße der Mutter und trug es, während es den Kopf schläfrig über ihre Schultern hängen ließ, ins Bett.
»Gott sei Dank, jetzt ist der Tag vorüber!« sagten die Oblomower, sich ins Bett legend, ächzend und ein Kreuz schlagend, »wir hätten ihn glücklich verlebt; gebe Gott, daß es morgen auch so ist! Gelobt sei der Herr! Gelobt sei der Herr!«
Dann träumte Oblomow von einer anderen Zeit; er schmiegt sich an einem endlosen Winterabend ängstlich an die Kinderfrau, und sie flüstert ihm von einem unbekannten Lande zu, wo es weder Nacht noch Kälte gibt, wo immer Wunder geschehen, wo Milch und Honig fließen, wo niemand das runde Jahr etwas tut und wo den ganzen lieben Tag lauter solche Helden wie Ilja Iljitsch und so schöne Mädchen, wie sie weder im Märchen wiederzugeben noch mit der Feder zu beschreiben sind, herumspazieren. Dort gibt es auch eine gute Zauberin, die manchmal in der Gestalt eines Hechtes erscheint und sich irgendeinen stillen, arglosen Liebling auserwählt, mit anderen Worten irgendeinen Faulpelz, dem alle Unrecht tun, und ihn ganz ohne Grund mit allerlei Schätzen überschüttet, und er ißt nur und zieht die fertigen Kleider an und heiratet dann die unerhört schöne Militrissa Kirbitjewna. Das Kind verschlang gierig mit offenen Ohren und Augen das Märchen. Die Kinderfrau oder vielmehr die Überlieferung vermied in dem Märchen so geschickt alles, was in Wirklichkeit vorkommt, daß Phantasie und Verstand, die sich vom Erdachten durchdringen ließen, bis zum Alter dessen Sklaven blieben. Die Kinderfrau erzählte gutmütig das Märchen vom dummen Jemelja, diese boshafte und tückische Satire auf unsere Vorfahren und vielleicht auch auf uns selbst. Und wenn der erwachsene Ilja Iljitsch auch später erfährt, daß es weder Milch- und Honigflüsse noch gute Zauberinnen gibt, wenn er auch lächelnd über die Märchen der Kinderfrau scherzt, ist sein Lächeln doch nicht aufrichtig, es wird von einem heimlichen Seufzer begleitet. Das Märchen hat sich bei ihm mit dem Leben verwebt, und er trauert manchmal unbewußt darüber, warum das Märchen nicht das Leben und das Leben kein Märchen ist. Er träumt unwillkürlich von Militrissa Kirbitjewna; es zieht ihn immer dorthin, wo man den ganzen lieben Tag nur spazierengeht, wo es keine Sorgen und keine Traurigkeit gibt; er behält für immer die Neigung bei, auf dem warmen Ofen zu liegen, in einem fertigen, nicht durch Arbeit gewonnenen Kleide herumzugehen und auf die Rechnung der guten Zauberin zu essen. Auch Oblomows Vater und Großvater hatten in der Kindheit dieselben Märchen gehört, die in der stereotypen Ausgabe des Altertums von den Lippen der Kinderfrauen und Hofmeister Jahrhunderte und Generationen hindurch überliefert wurden.
Unterdessen läßt die Kinderfrau vor der Phantasie des Kindes ein neues Bild erstehen.
Sie erzählt ihm von den Heldentaten unserer Achilles und Ulysses, von dem Mut eines Ilja Muromez, eines Dobrinja Nikititsch, eines Aljoscha Popowitsch, eines Polkan und eines Wanderkrüppels, davon, wie sie die unzähligen Heere der Ungläubigen geschlagen haben, wie sie darin wetteiferten, einen Kelch grünen Weines auf einen Atemzug, ohne sich zu räuspern, zu leeren; dann sprach sie von den bösen Räubern, von schlafenden Prinzessinnen, von versteinerten Städten und Menschen; zum Schlusse ging sie zu unserer Dämonologie, zu Toten, Ungeheuern und Werwölfen über.
Mit der Einfachheit und Gutmütigkeit eines Homer, mit derselben lebendigen Wahrheit des Details und Plastizität der Bilder überlieferte sie dem Gedächtnis und der Phantasie des Kindes die Iliade des russischen Lebens, die von unseren Homeriden in jenen nebelhaften Zeiten erschaffen wurde, als der Mensch mit den Gefahren und den Geheimnissen der Natur und des Lebens noch nicht vertraut war, als er noch vor dem Werwolf und dem Waldunhold zitterte, als er vor der ihn umgebenden Drangsal bei Aljoscha Popowitsch Schutz suchte und als die Luft, das Wasser, der Wald und das Feld vom Wunder beherrscht wurden. Das Leben eines damaligen Menschen war gefahrvoll und unsicher; er brauchte nur die Schwelle des Hauses zu verlassen, um einem Unheil zu begegnen; da konnte er jeden Augenblick von einem wilden Tiere zerrissen oder von einem Räuber erstochen werden, ein böser Tatare konnte ihm sein Gut rauben, oder er konnte
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