Oblomow
Wahrheit nicht unterwarf, war für ihn eine optische Täuschung, die eine oder andere Brechung der Strahlen und Farben auf dem Netze des Sehorganes, oder endlich eine Tatsache, an die die Erfahrung noch nicht herangetreten ist. Er frönte auch nicht jenem Dilettantismus, der sich auf dem Gebiete des Wunderbaren zu ergehen liebt oder mit Zuhilfenahme von Ahnungen und Entdeckungen für tausend Jahre im vorhinein sich auf den Don Quijote hinausspielt. Er blieb an der Schwelle des Geheimnisses hartnäckig stehen, ohne den Glauben eines Kindes oder das Zweifeln eines Laffen zu äußern, und wartete das Erscheinen des Gesetzes ab, das auch den Schlüssel zu dem Unbegreiflichen brachte. Er kontrollierte seine Gefühle ebenso fein und vorsichtig wie seine Phantasie. Hier strauchelte er oft und mußte sich eingestehen, daß das Gebiet der Herzensfunktionen noch eine terra incognita war. Er dankte inbrünstig dem Schicksal, wenn es ihm gelang, auf diesem unbekannten Gebiete die geschminkte Lüge vor der bleichen Wahrheit rechtzeitig zu unterscheiden; er klagte nicht einmal dann, wenn er vor dem mit Blumen geschmückten Betruge zurücktrat und nicht fiel und wenn sein Herz nur fieberhaft und beschleunigt schlug, er war froh und glücklich, wenn es nicht von Blut überströmte, wenn ihm kein kalter Schweiß auf die Stirne trat und sich dann für lange Zeit ein tiefer Schatten auf sein Leben senkte. Er hielt sich schon dann für glücklich, wenn er sich stets auf der gleichen Höhe zu halten vermochte und wenn er, auf dem Steckenpferde des Gefühls reitend, den feinen Strich, der die Welt des Gefühls von der Welt der Lüge und Sentimentalität und die Welt der Wahrheit von der Welt des Komischen trennte, nicht unbemerkt ließ oder wenn er beim Zurückreiten nicht auf den sandigen, trockenen Boden der Härte, des Räsonierens, des Mißtrauens, der Kleinlichkeit und der Kastration des Herzens geriet.
Er fühlte, auch während er sich hinreißen ließ, den Boden unter den Füßen und hatte so viel Kraft in sich, um sich im Falle der Übertreibung loszureißen und freizumachen. Er ließ sich durch die Schönheit nicht blenden, vergaß darum nicht seine männliche Würde und erniedrigte sich nicht, er wurde nicht zum Sklaven, lag nicht zu den Füßen der Schönen, wenn er auch keine feurigen Freuden kennenlernte. Er machte sich keine Götzen, erhielt sich aber dafür die Kraft der Seele und des Körpers und war keusch und stolz; ihm entströmte so viel Frische und Gesundheit, daß auch die dreisten Frauen verwirrt wurden. Er kannte den Wert dieser seltenen und kostbaren Eigenschaften und verbrauchte sie so geizig, daß man ihn egoistisch und gefühllos nannte. Man rügte seine Zurückhaltung, seine Kunst, die Grenzen des natürlichen, freien Geisteszustandes einzuhalten, und rechtfertigte dabei manchmal voll Neid und Bewunderung einen andern, der sich in vollem Laufe in den Kot stürzte und sowohl seine eigene als auch eine fremde Existenz zerstörte. »Die Leidenschaften rechtfertigen alles«, sagte man um ihn herum, »und Sie schonen in Ihrem Egoismus nur sich selbst; wir wollen sehen, für wen.« – »Für irgendwen am Ufer«, sagte er nachdenklich, als blickte er in die Ferne und glaubte wie bisher nicht an die Poesie der Leidenschaften, bewunderte nicht ihre stürmischen Äußerungen und zerstörenden Spuren, sondern wollte immer das Ideal des Seins und der menschlichen Bestrebungen im strengen Verständnis und Gestalten des Lebens sehen. Und je mehr man seine Ansichten bestritt, desto tiefer gab er sich seiner Hartnäckigkeit hin und geriet sogar, wenigstens während der Debatten, in einen puritanischen Fanatismus hinein. Er sagte, es sei die normale Bestimmung des Menschen, die vier Jahreszeiten, das heißt die vier Stufen des Alterns, ohne Sprünge zu verleben, das Gefäß des Lebens zum letzten Tag hinzutragen, ohne auch nur einen einzigen Tropfen nutzlos verschüttet zu haben, und daß das gleichmäßige, langsame Brennen des Feuers der stürmischen Feuersbrunst, wie poetisch sie auch sein mochte, vorzuziehen sei. Zum Schlusse fügte er hinzu, daß er glücklich wäre, wenn er seine Überzeugung an sich bewahrheiten könnte, daß er es aber nicht zu erreichen fürchte, weil es sehr schwer wäre; daß die Menschen überhaupt zu sehr verdorben wären und daß es noch keine wahre Erziehung gäbe. Und dabei verfolgte er immer beharrlich den von ihm erwählten Weg. Man sah niemals, daß er über etwas krankhaft und qualvoll
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