Obsession
sich noch
einmal um. Durch die Vergrößerung schien sie direkt vor ihm zu stehen. Ihr Gesicht war ungeschminkt, das gebleichte Haar ungekämmt
und zerzaust. Die dunklen Wurzeln stellten einen starken Kontrast zum künstlichen Blond des Restes dar. Auf einer Wange war
ein entzündet aussehender Punkt, ihre Lippen waren aufgedunsen und blass, nur in einem Mundwinkel war verschmierter Lippenstift
zu sehen. Unter dem T-Shirt zeichneten sich ihre Brustwarzen ab, und so wie die Brüste schaukelten, wenn sie sich bewegte, hatte |198| sie wohl nichts darunter an. Als sie die Stufen hinauf ins Haus ging, schob sich das T-Shirt minimal nach oben, sodass er einen kurzen Blick auf ihren nackten Hintern werfen konnte. Die Tür schloss sich hinter ihr.
Schemenhaft sah er sie am Küchenfenster vorbeigehen und im Inneren des Hauses verschwinden. Ben hob automatisch die Kamera.
Eines der Fenster in der oberen Etage hatte Milchglasscheiben, vermutlich das Bad oder die Toilette. Er richtete die Kamera
auf das Fenster, in dem er Sandra gesehen hatte, als er das erste Mal dort gewesen war. Das Teleobjektiv hatte eine feste
Brennweite und keine Zoomfunktion, aber wenn er die Schärfe veränderte, konnte er hinter der Reflexion auf der Scheibe ein
paar Einzelheiten im dunklen Inneren erkennen. Er sah das blasse Rechteck eines Doppelbettes, den hellen Schimmer eines Kommodenspiegels.
Dann ging die Tür auf, und Sandra Cole kam herein. In der Dunkelheit des Zimmers zeichneten sich nur das weiße T-Shirt und ihr blondiertes Haar ab, sie war aber besser zu erkennen, je mehr sie sich dem Fenster näherte. Ben machte mehrere Aufnahmen,
während sie das Bett abzog, dann die schmutzigen Laken zusammenraffte und das Zimmer verließ.
Seine Arme schmerzten so sehr, dass er die Kamera senkte. Das Haus war jetzt wieder zu einem harmlosen Teil der Reihe geschrumpft.
Als er dort hinunterstarrte, war ihm vor Aufregung ganz flau.
«Du meine Güte», sagte er erstaunt.
Dann begann er, das Stativ aufzustellen.
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|199| Kapitel 12
«Das ist natürlich nur meine Meinung», sagte die Frau. «Aber die Gerichte sind doch viel zu nachsichtig. Ich kann überhaupt
nicht verstehen, wie man das anders sehen kann. Ständig werden Urteile gekippt, dabei nimmt die Kriminalität immer mehr zu.
Selbst ein Blinder muss doch den Zusammenhang sehen. Und trotzdem – und das erstaunt mich wirklich –, trotzdem gibt es Leute, die aufschreien, wenn Kriminelle ins Gefängnis gesteckt werden.»
Die Frau schaute in die Runde, die Hände ausgebreitet und ein ungläubiges Lächeln auf den Lippen, als müsste jeder ihr Erstaunen
teilen. Die anderen Gäste bedachten sie durchweg mit höflichen Blicken. Ben spürte ein Kribbeln in den Beinen und schlug sie
andersherum übereinander. Er trank noch einen Schluck Wein und gratulierte Tessa insgeheim zu einem weiteren großartigen Erfolg.
Sie saß ihm gegenüber am anderen Ende des Tisches. Ihr rostbraunes Kleid biss sich unvorteilhaft mit ihrem dunkelroten Lippenstift.
Weder das eine noch das andere stand ihr. Die Party fand zur Feier ihres und Keiths zehnten Hochzeitstages statt, wie in allen
anderen Dingen des Lebens hatte sie jedoch auch für gesellschaftliche Ereignisse kein glückliches Händchen. Durch irgendein
launisches Planungstalent war es ihr gelungen, genau die falsche Anzahl an Gästen einzuladen: zu viele für ein Essen |200| und zu wenige für alles andere. Aber das Essen war gut gewesen, der Wein noch besser, und vielleicht wäre es gar nicht so
übel geworden, wenn die Chemie zwischen den Gästen auch nur ansatzweise gestimmt hätte. Manchmal konnte die Mischung unterschiedlicher
Typen einen guten Abend erst ausmachen, in diesem Fall hatten sie sich jedoch gegenseitig neutralisiert.
Abgesehen von dieser Frau.
Noch ehe der Käse serviert worden war, hatte sie losgelegt, und während die anderen Gespräche allmählich versiegten, hatte
sie wortreich die Lücke gefüllt. Sie war auf eine wohlgenährte Weise attraktiv und mit dem Selbstvertrauen vermögender Leute
gesegnet, welches daher rührte, dass ihre Meinungen nie in Frage gestellt wurden und sie nie zugehört hatte, wenn es doch
mal passierte.
«Es ist genauso wie bei der Diskussion um die Todesstrafe», erklärte sie und lächelte einsichtig. «Jeder weiß, dass sie ein
Abschreckungsmittel ist. Warum wenden wir sie dann nicht an, in Gottes Namen? Diese Leute würden nicht so leichtfertig
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