Occupy Economics
überholt. Das meiste Geld wird heute an der Wall Street und in London »verdient«. Der Finanzkapitalismus hat die echten Kapitalisten überholt. Er lebt ohne Hinterland, ohne Bodenhaftung, und anonym ohne realwirtschaftlichen Bezug. Seine Verantwortungslosigkeit ist Bedenkenlosigkeit, Chaos und Hirnlosigkeit zugleich. Es regieren Zufall und Stimmung. Heraus kommen geschniegelte Krösusse, denen es egal ist, ob die Firma, bei der sie beschäftigt sind, an ihrer Transaktion pleitegeht oder nicht, Hauptsache, ihr Gewinn ist sicher irgendwo außerhalb geparkt. Eine Transaktionssteuer wäre ein geeigneter Schritt, um das System abzubremsen, eines Teils seiner Künstlichkeit zu berauben. Da die deindustrialisierten Länder Großbritannien und USA ihre Einkünfte aber schon zu einem maßgeblichen Teil aus diesem »Spiel« beziehen, wehren sie sich gegen diesen Eingriff.
5.2 Kapitalismus und Finanzkapitalismus
Das politische Problem liegt aber auch darin, dass der kranke Finanzkapitalismus wesentliche Ursache dafür ist, dass der Kapitalismus an sich immer stärker angegriffen wird. Auch daran ist unsere Volkswirtschaftslehre schuld. Sie unterscheidet nicht zwischen Realkapital und Finanzkapital. Für sie gibt es nur das Kapital. Der Ökonom Kenneth Rogoff sagte auf der bereits erwähnten Veranstaltung des Handelsblatts in Frankfurt, dass in der makroökonomischen Theorie Banken einfach nicht vorkämen. Da die Theorie nicht trennt, gibt es auch in der Öffentlichkeit die Trennung nicht. Der Kapitalismus steht am Pranger, obwohl schon der Begriff »occupy Wall Street« darauf verweist, dass es sich nur um den kranken Finanzkapitalismus dreht.
Der Kapitalismus des Hinterlandes, die Privatsphäre, Haushalte und Betriebe, die Sorge um das Eigentum und die Marktwirtschaft als Mittel der arbeitsteiligen Versorgung, alle diese Dinge sind im Rahmen des menschlichen Daseins quasi unsterblich wie die Sorge um das tägliche Brot und die Sorge um die Nachkommenschaft. Was untergeht beziehungsweise an die Zügel gehört, ist der Finanzkapitalismus, das Bankensystem, die Kreditwirtschaft, dieses krakenhafte Buchhaltungssystem. Es gehört wieder an reale Werte gebunden. Dafür brauchen wir eine Währungsreform und drastische staatliche Eingriffe. Die Staaten, auch die Staatengemeinschaft, müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden und sich damit dann allerdings auch selbst ihrer eigenen Finanziers berauben. Aus Freunden werden Feinde.
Im Grunde sind wir hier in einer kritischen Situation wie zu Zeiten der industriellen Revolution. Die Idee der Solidargemeinschaften, des sozialen Ausgleichs, hat sich auch aus Krisen heraus entwickelt. Der Kapitalismus musste gebändigt, musste sozial werden. Bei uns hat das mit der Sozialen Marktwirtschaft ja auch ganz gut geklappt. Jetzt haben wir die Krise des Finanzkapitalismus. Auch der muss an die Kette gelegt werden. Wir wollen auf ihn nicht ganz verzichten, aber er muss seine Allmacht verlieren, seine Fähigkeit zur beliebigen, übermäßigen Geld/Gold-Produktion. In das Ganze politisch einzugreifen, ist natürlich schwierig, weil das Metier, die Buchungen, die Produktion anonym und unsichtbar ablaufen. Man sieht nur Ergebnisse und Verläufe. Aber allein das Wissen sollte ausreichen, um Veränderungen herbeizuführen.
20 Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals, Zürich 2010/2011, S.122: »Die symbolische Bindung der Tauschrelation erfährt eine diabolische Wendung. Vor allem aber rührt die Entfaltung der Chrematistik an eine Dimension, in der sich der Sturz der Naturordnung überhaupt und mit ihr ein Bruch im ontokosmologischen Kreis abzeichnet.«
6. Diskussion: Die Theorien und ihre Fehler (occupy theory)
Die Trennung von öffentlich und privat, von Marktwirtschaft (Katallaxie) und Kapitalismus (Ökonomie) eröffnet die Möglichkeit, die in der Welt vorhandenen Vorstellungen und Theorien neu zu diskutieren und einzuordnen. Es ergeben sich – teilweise von selbst – neue Antworten auf alte Fragen. Was ist wirtschaftliches Wachstum, wo findet es statt? Wie kann man wirtschaftliches Wachstum messen? Wo befindet sich der Anwendungsbereich der neoklassischen Modelle? Welche Bedeutung hat der Nutzen, also der Grenznutzen wirklich? Welche Position und welche Aufgaben hat der Staat? Wo hat der Egoismus seinen Platz, wo der Altruismus? Was ist Planwirtschaft? Welche Bedeutung haben Investitionen? Wie funktioniert der Markt für Investitionen? Was ist soziale Gerechtigkeit? Wie und wo wird sie
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