Ocean Rose. Erwartung (German Edition)
und das dünne Haar. Sie lag im Sterben. Und zwar, weil sie nicht genug Luft zum Atmen bekam.
Ich legte das Scrapbook neben ihr aufs Bett und rannte ins Badezimmer. Dort drehte ich den Hahn an der Wanne auf und durchwühlte die Schränke und Fächer nach etwas, das ich mit Wasser tränken konnte. Ich zerrte Handtücher aus den Regalen und warf sie in die Badewanne. Der salzige Fischgeruch löste einen Würgereiz aus, aber ich unterdrückte ihn, krempelte die Ärmel hoch und drückte die Handtücher tiefer unter Wasser, bis sie vollgesogen waren.
Als ich zurückkehrte, waren Bettys Augen wieder geschlossen. Ich hielt die nassen Handtücher an meine Brust gedrückt und spürte kaum, wie mir das kalte Salzwasser durch die Kleidung drang. Vorsichtig nahm ich die Decke, die ihr bis unters Kinn gezogen war, nahm sie ab und ließ sie zu Boden fallen. Der samtige, purpurne Morgenmantel sah jetzt viel zu groß für Betty aus. Ich knotete den Gürtel auf und enthüllte ihren zerbrechlichen Körper.
Er steckte in ihrem knallroten Lieblingsbadeanzug.
Ihre Rippen dehnten den Stoff aus, als sie zu atmen versuchte. Ich begann, Betty mit den nassen Handtüchern zu bedecken, von den Füßen bis zur Brust. Bei den Schultern angekommen, zog ich den Morgenmantel von ihren Armen und arbeitete mich weiter nach oben. Als nur noch ihr Gesicht herausschaute, sank ich zurück auf den Sessel und wartete.
Zuerst kehrte die Farbe in ihre Wangen zurück. Die aschgraue Haut wurde erst blassweiß und dann rosa, die tiefen Falten verschwanden, die Lippen wurden voller. Nach ein paar Minuten hob und senkte sich ihre Brust zum ersten vollen Atemzug.
Während Betty langsam wieder zu Kräften kam, nahm ich das Scrapbook und schlug die letzten Seiten auf. Dort waren Todesanzeigen eingeklebt wie Hochzeitsfotos: Charles Spinnaker, Aaron Newberg, William O’Dell, Donald Jeffries, Tom Connelly. Als ich die letzten vier erreichte, die gestern in der Schlagzeile des Herald aufgetaucht waren, blätterte ich wieder zurück. Raina war in ihrem Scrapbook sehr gründlich gewesen, aber zwei Opfer fehlten. Es überraschte mich nicht, dass Justine dazugehörte – schließlich war Zara für ihren Tod verantwortlich gewesen –, aber verblüfft stellte ich fest, dass auch einer der Männer nicht auftauchte. Ein Bericht über ihn war immerhin in dem Zeitungsstapel gewesen, den ich vom Sessel geräumt hatte, und man hatte seine Leiche gleich nach Justines gefunden. Zwar hatte ich keine Ahnung, was für Regeln für diese perverse Form des Scrapbookings galten, aber es war doch anzunehmen, dass das erste Opfer einer Mordserie spezielle Aufmerksamkeit verdiente – vielleicht ein paar Extraseiten mit Glitter und bunten Stickern.
Aber Paul Carsons hatte keinen Glitter bekommen. Er war völlig übergangen worden.
Ich blätterte bis ganz ans Ende des Buches, und mein Magen verkrampfte sich bei den leeren weißen Seiten, die darauf warteten, mit Opfern gefüllt zu werden. Vielleicht hatte Raina sich einfach noch nicht entschieden, wie sie Paul Carsons verewigen wollte. Möglich, dass sie weitere Zeitungsartikel und Fotos sammelte oder dass sie ein Buch extra für ihn anlegen wollte oder –
Ich war froh über die Unterbrechung, als Betty neben mir leise stöhnte.
»Betty«, sagte ich und drückte das Buch an meine Brust, um mich zu ihr vorzubeugen. »Ich bin es, Vanessa. Gibt es etwas, das ich dringend wissen muss?«
Ihr Kopf drehte sich in meine Richtung, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Neunzehn … hundert … dreiundneunzig.« Eine Hand schlüpfte unter einem Handtuch hervor und strich über den Einband des Scrapbooks.
Schnell blätterte ich und übersprang Jahrzehnte voller Verführung und Verderben. Als ich 1993 erreichte, blieb mein Blick am Foto einer lächelnden Frau hängen. Sie hatte langes Haar, trug eine Bluse mit Puffärmeln und dazu einen roten Rock, der bis zum Boden reichte. Ich konnte mich nicht erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben, aber trotzdem wirkte sie seltsam bekannt.
»Charlotte Bleu«, las ich laut den Text unter dem Bild. »Von der kanadischen Abstammungslinie Nenuphar, wurde 34 J. alt und starb am 17.11.1993 bei der Geburt ihres Kindes.«
Ich starrte auf das Datum, bevor ich mich dazu bringen konnte, den Rest der Seite anzuschauen. Als ich bei dem Bild in der unteren rechten Ecke landete, wo sich Charlotte an einen glücklichen, ahnungslosen Mann gehängt hatte, knallte ich das Scrapbook zu und schmiss es
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