Ocean Rose Trilogie Bd. 3 - Erfüllung
mich wieder umdrehte, wurde das Geräusch lauter.
Da verstand ich, dass es von Charlotte kam. Ihre Lippen bewegten sich nicht … und trotzdem sang sie. Das Ganze dauerte höchstens fünf Sekunden, in denen der Ton immer klarer, lauter und voller wurde. Am Ende brach er zitternd ab, doch die kurze Zeit hatte gereicht, damit sich ihre verkrümmten Finger streckten, die Haut wieder glatt und das weiße Haar dunkelgrau wurde.
Dann war es auch schon vorbei. Sie nahm die Hand von seiner Brust und reichte ihm die Frisbeescheibe.
»Danke.« Er blinzelte verwirrt und nahm die Plastikscheibe entgegen.
Charlotte setzte die Sonnenbrille wieder auf und wandte sich ihrem Mittagessen zu. Ein oder zwei Sekunden stand der Typ noch unbeweglich neben uns, dann wich er zurück. Ein weiterer gehauchter Gesangston erklang, diesmal so leise und kurz, dass ich fast glaubte, ich hätte ihn mir eingebildet. Der junge Mann schüttelte den Kopf, drehte sich um und kehrte zu seinen Freunden zurück. Dabei schaute er sich nicht um und schenkte uns auch während des weiteren Spiels keine Beachtung mehr.
»Was war denn das ?«, fragte ich.
Charlotte verschlang ihren Wrap, als hätte sie endlich genug Kraft, um Appetit zu entwickeln.
»Er hat mich nicht mal angeschaut«, fuhr ich fort. »Dabei saß ich direkt vor seiner Nase. Das ist mir echt schon lange nicht mehr passiert. Versteh mich nicht falsch, ich bin nicht neidisch, sondern dankbar.« Ich zeigte auf ihren Arm. »Und deine Haut! Völlig faltenlos, als wärest du gerade einen ganzen Monat im Meer geschwommen.« Dann schaute ich in Richtung der Frisbeespieler. »Er wirkt, als sei gar nichts passiert.«
»Ist es auch nicht. Zumindest nicht für ihn.« Sie aß den letzten Bissen.
Ich dachte daran, wie mich gestern mein perfektes Spiegelbild im Ferienhaus überrascht hatte. War meine Schönheit mit diesem Effekt zu erklären? Im Restaurantkeller hatte ich in den Armen eines Mannes gelegen und geschrien – nur war der Ton ganz anders herausgekommen als beabsichtigt. War es möglich, dass seine körperliche Reaktion ausgereicht hatte, um mich mit neuer Energie zu füllen und den unnatürlichen Alterungsprozess aufzuhalten?
»Kann der Typ sich überhaupt erinnern, dass er hierhergekommen ist?«, fragte ich und kehrte damit in die Gegenwart zurück.
»Ja, aber nur daran, dass er sein Frisbee geholt hat. Unser kurzes Gespräch hat er vergessen.«
»Wie ist das möglich? Du hast ihn sogar angefasst, mehrere Sekunden lang, und er weiß nichts davon?«
Charlotte stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab, erhob sich ein Stück und schob erst das eine, dann das andere Bein über die Bank. Ihr Körper wirkte noch immer zerbrechlich, aber ihre Bewegungen waren viel sicherer. Unsere Knie berührten sich unter dem Tisch, als sie sich zu mir vorbeugte.
»Vanessa, was du bisher schon mitgemacht hast – der plötzliche Durst, die Energieschwankungen, die Schwächeanfälle –, wird nicht besser, sondern schlimmer werden. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Symptome für längere Zeit loszuwerden. Du musst jemanden vom anderen Geschlecht dazu bringen, dich auf Körper- und Gefühlsebene zu begehren. Am besten funktioniert es, wenn er eigentlich schon eine Beziehung hat und du dich anstrengen musst, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. So war es bei Parker, oder?«
»Ja, aber ich kann doch nicht –«
»Das Gleiche schon wieder machen? Simon erneut verletzen? Nein, das verstehe ich schon. Deshalb habe ich dir gerade eine Abkürzung gezeigt.«
»Eine Abkürzung …?«
»Einen direkten Weg zum Herzen des Mannes, den du anvisiert hast. Dazu brauchst du Körperkontakt und deine Sirenenstimme. Der Nachteil ist, dass die Wirkung nicht so lange anhält wie bei echter Intimität, aber jedenfalls ist es tausendmal effektiver als die Flasche Salzwasser, die du gerade in dich hineingeschüttet hast. Du musst es nur oft genug tun. Wenn du erst Routine hast, kannst du dich damit von einem Tag zum anderen retten, ohne mehr tun zu müssen.«
Ich versuchte, ihre Erklärung und die gerade gesehene Szene zu verdauen. »Aber ist das nicht ziemlich schwierig? Ich meine, einfach auf einen unbekannten Mann loszugehen und zu tun, was du gerade getan hast – besonders in der Öffentlichkeit, wo Leute einen sehen könnten? Man hat ja nicht immer einen fast menschenleeren Strand zur Verfügung.«
»Stimmt, leicht ist es nicht«, gab Charlotte zu. »Keine der Alternativen ist einfach. Du musst selbst
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