Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
ich fürchte, so wird es nicht laufen.«
Sie musste schniefen und wischte sich mit beiden Händen ihre Tränen fort. »Komm dieses Wochenende mit nach Winter Harbor.«
»Was?«
»Oma B hat mich eingeladen. Ich fahre mit dem Bus nach Portland, treffe mich dort mit Riley, und er bringt mich das letzte Stück mit seinem Auto hin.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Wenn du mitkommst, kannst du Simon anrufen, damit er sich mit dir trifft. Dann besprecht ihr alles noch einmal und lasst euch eine bessere Lösung einfallen, als miteinander Schluss zu machen.«
Von der ganzen Simon-Sache abgesehen, war es eine gute Idee, aus der Stadt zu kommen. Wenn ich das Wochenende allein hier in Boston verbrachte, würde ich nur endlos grübeln.
»Tadaa!«
Dads Stimme ließ mich zusammenschrecken. Ich fuhr herum und sah ihn auf der obersten Stufe der Gartentreppe stehen, wo er meinen blauen Fleecepulli wie eine Siegestrophäe schwenkte.
»Die Tat ist vollbracht«, verkündete er und kam die Stufen herunter. »Doch hätte ich diese Suche allein bestehen müssen, so fürchte ich, wärst du vorher zu einem menschlichen Eiszapfen gefroren.«
Ich warf einen Blick auf Paige, die auf ihr Handy starrte.
»Deine allwissende Mutter jedoch hat deinen Lieblingspullover noch rechtzeitig aus einem Berg frischer Wäsche gezogen.«
Er kam bei uns am Frühstückstisch an und hielt mir den Pulli entgegen. Ich starrte zwischen dem Pullover, Dads stolz strahlendem Gesicht und Mom hin und her, die in der Küche den Abwasch machte, als sei alles in bester Ordnung. Als sei dieser Tag völlig normal, auch wenn ihr Mann vor siebzehn Jahren ihre Familie zerstört hatte und sich nun bei Unbekannten im Internet darüber ausweinte.
»Weißt du was?«, sagte ich zu Paige. »Ich glaube, ein Ausflug nach Winter Harbor ist genau das, was ich brauche.«
K APITEL 16
A m nächsten Morgen brachen wir frühzeitig zur Schule auf. Paige wollte Miss Mulligan nach einer College-Ausbildung in Restaurant-Management fragen, die sie im Internet entdeckt hatte, und ich wollte die Bibliothek möglichst für mich haben, während ich die Website des Winter Harbor Herald durchschaute.
Doch schon in der Eingangshalle wurde klar, dass wir nicht die Einzigen waren, die heute früher aufgestanden waren.
»Hier ist doch was faul«, stellte Paige fest, als zwei Lehrer an uns vorbeihasteten, ohne uns zu beachten. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten aufgeregt miteinander. »Hat es an der Hawthorne schon einmal einen unangekündigten schulweiten Prüfungsmarathon gegeben?«
»Nicht dass ich wüsste.« Aber Paige hatte recht. Es sah ganz nach einer Verschwörung der Lehrerschaft aus oder zumindest nach etwas ähnlich Dramatischem. Innerhalb einer halben Minute kam bestimmt ein Dutzend Lehrer an uns vorbei, ohne dass ein einziger fragte, was wir so früh hier zu suchen hatten. Alle strömten in dieselbe Richtung.
»Ich versuche, Miss Mulligan zu erwischen, bevor ihr Schulflügel auch noch evakuiert wird, oder was immer hier vorgeht«, sagte Paige. »Wir treffen uns vor dem Eingang, falls es wirklich ein Problem gibt, okay?«
Sie bog links ab und ich rechts, wobei ich fast eine Massenkarambolage verursachte, weil ein Lehrertrio aus dem Geschichtstrakt geschossen kam, um sich in den Massenverkehr des Flurs einzureihen. Ich versuchte, etwas von dem Geflüster aufzufangen, aber alle murmelten durcheinander und rannten zu schnell vorbei. Kaum hatte ich ein paar Wortbrocken verstanden – »unerwartet«, »Tragödie«, »Schadensbegrenzung« –, waren die Lehrer auch schon meterweit weg und außer Hörweite.
Beim Bibliothekseingang angekommen, schlüpfte ich durch die Flügeltür, wobei ich noch bemerkte, dass die Lehrermenge sich am Ende des Flurs staute und in die Aula drängte.
Ich setzte mich an einen Computer hinter einem hohen Bücherregal voller verstaubter Nachschlagewerke und loggte mich in mein Mailpostfach ein.
WICHTIG!!
Der Betreff der ersten Nachricht sprang mir in roten fetten Großbuchstaben entgegen. In unserer Schule wurde viel Wert auf Netiquette gelegt, und dieses einzelne Wort brach jede Höflichkeitsregel. Ich hätte die Nachricht für Spam gehalten und gelöscht, wäre sie nicht vor zehn Minuten aus dem Büro des Direktors versandt worden. In meiner ganzen Schulzeit war es nur einmal vorgekommen, dass der Direktor höchstpersönlich eine Rundmail versandt hatte, statt diese Aufgabe seinem Vize zu überlassen. Die damalige Nachricht
Weitere Kostenlose Bücher