Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
überspannte den Fluss und verband Boston mit dem nahen Cambridge auf der anderen Seite. Über mir rauschten morgendliche Pendler in ihren Autos vorbei, ohne zu ahnen, was sich hier vor wenigen Stunden abgespielt hatte.
Ein Ruderboot kam den Fluss entlang, und die rhythmischen Rufe des Sportteams holten mich zurück in die Gegenwart.
Was tat ich hier? Wieso stand ich an der Longfellow-Brücke? Okay, Colin Milton Cooper hatte sich hier ins Wasser gestürzt und war ertrunken. Okay, jemand hatte ihm kurz zuvor das Herz gebrochen. Aber das musste schließlich nicht automatisch bedeuten, dass Raina und Zara … dass sie überhaupt etwas mit der ganzen Sache …
Ich brauchte Simon. Panisch wühlte ich in meinem Rucksack nach dem Handy. Zwar hatte ich immer noch keinen seiner Anrufe und keine SMS beantwortet, aber jetzt brauchte ich Simon als Stimme der Vernunft. Ich musste von ihm hören, wie unlogisch meine Ängste waren und dass die beiden auf keinen Fall für Colins Ertrinken verantwortlich sein konnten, denn schließlich waren sie ganz sicher absolut hundertprozentig …
Tot. Sein Handy war tot, weil er es anscheinend nicht rechtzeitig aufgeladen hatte, und ich wurde direkt zur Mailbox weitergeleitet.
Frustriert steckte ich mein Handy wieder ein und musterte die Wasseroberfläche, als könnte ich dort irgendein verräterisches Zeichen entdecken: ein Aufblitzen von Licht, ein Wasserplatschen, ein Paar silberblaue Augen. Fast hoffte ich darauf, nur um den Beweis zu haben, dass ich nicht verrückt war und mir nichts Unmögliches einbildete.
Wie von selbst trat ich einen Schritt vor und fühlte kaum, wie eiskaltes Wasser meine Knöchel umschloss. Mechanisch bewegte ich mich weiter, und das Wasser stieg mir bis zu den Knien, dann bis zu den Hüften.
Ich konnte es schaffen. Mir war es schon einmal gelungen, sie aufzuhalten, und das würde ich jetzt wieder tun.
Doch ich kam nicht weit, bevor mich ein Stoß in den Bauch traf, der mir die Luft aus den Lungen trieb. Etwas hielt mich fest, und ich kämpfte dagegen an, streckte die Arme nach dem Wasser aus und bohrte ohne Erfolg die Fersen in den Schlamm.
»Nicht!«, keuchte ich. »Bitte, ich muss einfach …«
Ich verlor das Gleichgewicht, als meine Waden gegen einen Widerstand stießen, und fiel auf den Rücken. Dabei stieß ich mir schmerzhaft die linke Schulter, so dass ich für einen Moment Sterne sah und aus meiner seltsamen Trance erwachte. Zuerst konnte ich mich kaum erinnern, was ich hatte tun wollen.
»Alles okay«, murmelte mir eine männliche Stimme beruhigend ins Ohr.
Als der Schmerz nachließ, wurde mein Blick wieder klar, und ich sah den Fluss vor mir. Doch noch immer schien sich alles zu drehen, und ich brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass mich jemand in den Armen hielt und ein Paar khakifarbene Hosenbeine mich umklammerten.
»Alles okay …«
Mir wurde sofort leichter ums Herz.
Simon. Obwohl ich mit ihm Schluss gemacht hatte, obwohl ich keinen seiner Anrufe und keine SMS beantwortet hatte, war er gekommen. Er hatte sich solche Sorgen gemacht, als ich mich nicht meldete, dass er schon wieder den ganzen Weg vom Bates College hierhergefahren war.
Ich kniff die Augen zu, um nicht erneut in Tränen auszubrechen, kniete mich vor ihn und schlang ihm die Arme um den Hals.
»Danke«, sagte ich leise an seiner Schulter.
Seine Hände pressten sich schützend gegen meinen Rücken. Ich ignorierte die Warnsignale in meinem Kopf, suchte seinen Mund und küsste ihn.
Seine Lippen blieben steif.
»Alles okay«, flüsterte ich nun meinerseits.
Noch immer schien er zu zögern, doch seine Lippen wurden nachgiebiger und reagierten auf jede meiner Berührungen hungriger. Bald küssten wir uns so wild, dass ich vollkommen vergaß, wo wir waren und warum wir uns hier befanden. Als er sich auf den Rücken sinken ließ und mich mitzog, öffnete ich nicht einmal die Augen, um sicherzugehen, dass niemand uns sehen konnte. Zuschauer waren mir egal.
»Tut mir leid.« Mein Mund wanderte über seine Wange zu seinem Ohr. »Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist.«
Er zog mich noch näher zu sich heran, und seine Hände rutschten tiefer.
»Ich habe dich so vermisst«, flüsterte ich weiter.
Seine Finger erstarrten. »Du hast was?«
Mir blieb fast das Herz stehen, und ich riss die Augen auf. Als ich zurückwich, sah ich vor mir einen weißen Kragen, einen marineblauen Blazer und das goldumrandete Wappen der Hawthorne Highschool.
»Wir waren doch erst vor zehn
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