Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
mir so nah, dass ich plötzlich alles andere vergaß, inklusive der Antwort auf seine Frage.
»Nur ein toter Reporter ist ein guter Reporter. Deshalb seine Rundmail und die Lehrerversammlung am frühen Morgen. Er will die Story vertuschen, bevor die Presse sich darauf stürzen kann.«
»Und was für eine Story wäre das?«, fragte ich, obwohl ich nicht sicher war, ob ich die Antwort hören wollte.
Er nickte in Richtung des Bildschirms, auf dem immer noch ein lächelnder Colin Milton Cooper zu sehen war. »Das Ruderteam vom MIT hat heute Morgen trainiert und den armen Colin am Ufer des Charles River gefunden.«
Ich senkte den Kopf und nestelte an meinem Pulliärmel herum, während ich vor mir sah, wie Simon über den Lake Kantaka ruderte. »Woher wollen sie wissen, dass er von der Brücke gesprungen ist?«, hakte ich nach. »Wurde er dabei gesehen? Vielleicht war es ein Unfall, oder jemand hat ihn …«
»Er hat eine Nachricht hinterlassen. Auf der Longfellow-Brücke. Colin hat einen Zettel an einen weißen Luftballon gebunden, der von einem Briefbeschwerer aus Glas festgehalten wurde.«
Zum tausendsten Mal in dieser Woche traten mir die Tränen in die Augen.
»Anscheinend hat er sich von einem Mädchen einwickeln lassen.« Er ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »So läuft das ja häufiger.«
»Woher weißt du das alles?«
»Man schnappt solche Sachen eben auf. Von meinem Dad. Über Beziehungen.« Er holte sein Handy aus seiner Blazerjacke. »Willst du wissen, was daran wirklich gruselig ist?«
Wollte ich nicht, aber er beugte sich schon zu mir vor und tippte auf den Handytasten herum.
»Als sie ihn gefunden haben, war sein Mund total verzerrt, als würde er lächeln.« Er hielt mir das Display entgegen.
Ich starrte auf das Foto, und mir fehlten die Worte. Das Lächeln war nicht so eindeutig wie bei den Todesopfern im Sommer, erinnerte aber deutlich genug daran. »Woher hast du … wie bist du …?«
»Die Polizei hat es Direktor O’Hare geschickt, der hat es meinem Dad geschickt, und der hat sein Handy unbeobachtet rumliegen lassen, während er sein morgendliches Schaumbad nahm.«
Ich riss meinen Blick von dem Bild los und wandte mich wieder dem Computer zu.
»Hey …«
Jetzt war Parker mir ganz nah, und unsere Ellbogen berührten sich, als ich nach der Maus griff. Obwohl sich vier Schichten Kleidung zwischen uns befanden, schien seine Berührung ein elektrisches Kribbeln durch meinen Arm und über meinen Rücken zu jagen. Meine Hand zitterte so sehr, dass der ganze Cursor wackelte und ich unfähig war, die Website mit Colins Profil zu schließen.
»Tut mir leid.« Seine Stimme klang sanfter als gewöhnlich. »Ich bin ein Idiot. Keine Ahnung, warum ich dir das gezeigt habe.«
»Schon gut. Ich versuche nur, dieses Bild … Das klappt einfach nicht!«
Seine Hand legte sich auf meine, und die Maus stellte ihr Zittern ein. Mit angehaltenem Atem verfolgte ich, wie der Cursor auf die Bildschirmecke zuglitt. Parkers Zeigefinger legte sich über meinen, zögerte kurz und drückte die Maustaste.
Colin Milton Cooper verschwand.
Mein Blick wanderte vom Bildschirm zu unseren Händen. Parker machte keine Anstalten, seine Hand wegzunehmen. Ich aber auch nicht, was mich am meisten verstörte.
»Ich muss weg«, flüsterte ich.
»Was?« Er drückte kurz meine Finger, was sie aus ihrer Erstarrung zu wecken schien. »Wohin denn?«
Ich riss meinen Arm los und sprang auf.
Parker griff nach mir, doch ich wich aus und schnappte mir meine Schultasche, während sein Blick mich durchbohrte.
Mir war selbst nicht klar, wohin ich wollte. Zumindest am Anfang nicht. Ich rannte einfach nur los – raus aus der Bibliothek, die Flure entlang und durch die Eingangstür der Schule. Auf dem Fußgängerweg bog ich nach links ab und lief weiter. Meine Schritte wurden von selbst immer schneller. Ich sauste im Zickzack um Leute herum, rannte über Straßen, ohne auf die Ampeln zu achten. Orangerotes Herbstlaub wirbelte um mich herum, aber ich sah es kaum, sondern fühlte nur, wie harte, trockene Blattränder meine Haut streiften. Mein lauter Herzschlag übertönte die Autohupen, den Wind und schließlich auch den breiten Charles River, dessen Wellen ans Ufer plätscherten.
Ich blieb erst stehen, als kaltes Wasser meine Knöchel umspülte. Überrascht schaute ich auf und konnte kaum glauben, wohin meine Beine mich geführt hatten.
Die Longfellow-Brücke. Ihr gewaltiger Bogen
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