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Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)

Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)

Titel: Ocean Rose. Verwandlung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tricia Rayburn
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Treppe brannte noch immer Licht, also war Dad nicht von oben zurückgekehrt.
    Hastig überflog ich den neuesten Eintrag.
    Wie befürchtet, hat sich meine Beziehung zu Vanessa immer noch nicht völlig erholt. Ich bemühe mich weiterhin, sie wissen zu lassen, dass ich jederzeit für sie da bin, ohne sie zu bedrängen. Aber mehr als kühlen Smalltalk und ein seltenes Lächeln bekomme ich nicht zur Antwort. Früher hätte ihr Lächeln ausgereicht, bei Stromausfall die ganze Stadt zu erleuchten, doch nun sehe ich darin Enttäuschung, Trauer, Bitterkeit. Ich weiß, dass sie leidet, und dafür hat sie auch guten Grund. In ihren wenigen gemeinsamen Jahren waren Vanessa und Justine sich näher, als die meisten Schwestern es selbst nach Jahrzehnten voller geteilter Erlebnisse sind …
    Mein Blick blieb an dem letzten Satz hängen. Dad verstand überhaupt nichts. Wären Justine und ich uns wirklich so nah gewesen, hätte sie nicht sterben müssen.
    Irgendwo oben im Haus hörte ich Dad nach Mom rufen. Gleich darauf eilten leichte, gedämpfte Schritte die Treppe hinauf. Vermutlich blieben mir noch ein paar Minuten, bis die beiden die Suche nach dem Fleecepulli aufgaben. Also fuhr ich mit dem Lesen fort.
    Ich wünschte, sie würde mich an sich heranlassen und wie früher mit mir reden. Dann könnten die Wunden so viel schneller heilen. Jacqueline kann ich mit diesem Thema nicht belasten, denn schon jetzt hält sie sich nur mit Mühe aufrecht und versucht ihre Trauer mit sinnloser, hektischer Hausarbeit zu überdecken. Allzu leicht könnte ich alles nur noch schlimmer machen. Gott allein weiß, wie sie reagieren wird, wenn sie begreift, dass wir gerade auch unsere zweite, noch lebende Tochter verlieren.
    Ich befinde mich als Vater am Rand der Verzweiflung, und falls du eine Idee oder einen Ratschlag hast, bin ich ganz Ohr – oder Auge, um genau zu sein.
    Der Text weckte natürlich zahllose Fragen: Warum führte Dad dieses seltsame Tagebuch – oder wie sollte man es sonst nennen? Schrieb er an eine reale Internetbekanntschaft, wie der letzte Absatz vermuten ließ? Besprach er tatsächlich unsere – meine – intimsten Probleme mit jemandem, der keine Ahnung hatte, wer ich war und was in unserer Familie tatsächlich vor sich ging? Anscheinend wusste auch Mom nicht, was er wirklich tat, wenn er angeblich Klausuren korrigierte oder an seinem Fachbuch arbeitete. Falls er auf diese Weise nur seine Gedanken sortierte – und das kam mir wie die einzig logische Erklärung vor –, weshalb machte er so ein Geheimnis daraus? Es ergab keinen Sinn, ausgerechnet diese Gedanken so sorgfältig zu verstecken. Wenn er sich wirklich Sorgen um unsere Familie machte, dann hätte er sie laut aussprechen sollen, oder nicht?
    Und konnte er sich tatsächlich nicht denken, weshalb ich Enttäuschung, Trauer und Bitterkeit empfand, wenn ich ihn ansah?
    Die Antwort darauf musste warten, denn ein hastiger Blick über die Schulter verriet mir, dass bei der Treppe kein Licht mehr brannte, dafür aber in der Waschküche.
    »Komm schon«, flüsterte ich und klickte auf das Symbol für den Internet Explorer. Das blaue e begann so langsam zu rotieren, als müsse es erst aus tiefem Schlaf erwachen. »Komm schon, komm schon .«
    Endlich öffnete sich das neue Fenster, und ich begann, die Webadresse meiner Schule einzutippen. Mir blieben geschätzte dreißig Sekunden, um mich beim Server der Hawthorne anzumelden, mein E-Mail-Postfach zu öffnen, Dads Datei als Anhang an mich selbst zu schicken und alle Spuren zu löschen, dass ich an seinem Computer gewesen war. Selbst mit einem brandneuen, superschnellen Notebook wäre das schwer zu schaffen gewesen, aber mit diesem war es fast unmöglich.
    Ich hätte es riskiert – doch bevor ich die Adresse ganz zu Ende tippen konnte, merkte ich, welche Eingangsseite der Internet Explorer geöffnet hatte.
    Gmail. Ich war bei Dads Posteingang gelandet, als hätte er vergessen, sich auszuloggen – oder darauf verzichtet, weil er gleich wieder zurückkommen wollte.
    Fassungslos starrte ich auf den Bildschirm. Dad hatte nie erwähnt, dass er ein Gmail-Postfach besaß, obwohl das ziemlich nützlich gewesen wäre, da der Server des Newton Community College, bei dem unsere Familie angemeldet war, gerne mal abstürzte.
    Andererseits hatte ich wohl keinen Grund, mich benachteiligt zu fühlen, denn er hatte seine Gmail-Adresse auch sonst nicht herausposaunt. Genauer gesagt, hatte er anscheinend nur einer einzigen Person davon erzählt,

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