Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
verschwand. »Damals noch nicht, nein. Sie hat erst ein Jahr später davon erfahren.«
Ich sah die Kartons im Keller vor mir und hörte wieder Moms Erklärung, dass sie meine Babykleidung vom ersten Jahr verschenkt hatte. »Was ist dann passiert?«
So zögernd, als müsse er noch entscheiden, ob er das Richtige tat, drehte Dad sich zu dem Bücherregal neben seinem Schreibtisch um. Er schob einen Stapel alter Wörterbücher beiseite, hinter denen ein schlichtes Holzkästchen zum Vorschein kam. Er zog einen kleinen Schlüssel unter seinem Pulli hervor, öffnete das Kästchen und griff hinein.
»Als Nächstes habe ich das hier bekommen«, sagte er.
Mit angehaltenem Atem nahm ich eine Postkarte entgegen, die Winter Harbor im Herbst zeigte, wenn die Blätter rot, orange und gelb leuchten. Im Vordergrund sah man Bettys Fischerhaus, und durch die Bäume glitzerte Wasser in der Nachmittagssonne.
Mein Blick blieb an dem Restaurant hängen. Natürlich war es in Winter Harbor eine echte Institution, aber die Souvenirshops verkauften auch Dutzende anderer Postkartenmotive: den Leuchtturm, die wilde Steilküste am Meer, Wiesen voller Wildblumen … Trotzdem hatte Charlotte ausgerechnet diese Ansicht gewählt.
Lag darin eine Nachricht verborgen? Hatte sie geahnt, dass ich die Postkarte eines Tages sehen würde, und mir einen Hinweis hinterlassen wollen?
Mit zitterigen Fingern drehte ich die Karte um. Die blaue Tinte war mit der Zeit verblasst. Einige Buchstaben waren verwischt, als sei die Karte feucht geworden. Die Handschrift war klein und sehr ordentlich. Sie schien eine erzwungene Ruhe auszudrücken, die mit der Botschaft in Widerspruch stand.
Lieber Philip,
diese Nachricht wird die letzte sein, die Du von mir erhältst. Vanessa und ich verlassen Winter Harbor. Ich bin sicher, dass Du nur das Beste für unser Kind willst, genau wie ich. Deshalb müssen wir aus der Stadt fort – und ich kann Dir nicht sagen, wohin wir ziehen.
Ich danke Dir. Du hast mir ein wundervolles Geschenk gemacht, und das werde ich Dir nie vergessen.
Charlotte
»Das war’s?«, fragte ich. »Sie ist einfach verschwunden?«
»Zumindest hat sie es versucht. Doch zu meinem Glück war sie die Besitzerin eines kleinen Buchladens und hinterließ den Angestellten eine Telefonnummer für den Notfall. Ich fuhr nach Winter Harbor, um Charlotte von ihren Plänen abzuhalten. Dort konnte ich eine Mitarbeiterin mit ein paar wenig bekannten Anekdoten über R. W. Emerson einwickeln, so dass sie für mich anrief. Charlotte hat gleich wieder aufgelegt, aber die Polizei in Winter Harbor hat die Nummer für mich lokalisiert, so dass ich euch beide in einer winzigen Mietwohnung in Montreal aufspüren konnte.«
»Du bist extra nach Kanada gefahren?«
»Ich wollte die einzige Spur, die ich besaß, nicht kalt werden lassen. Vor allem hatte ich Angst, dass Charlotte meine Reaktion voraussehen und beschließen würde, noch einmal die Adresse zu wechseln.«
Als ich mir vorstellte, wie er mit dem Auto durch ganz New England bis nach Kanada gerast war, fühlte ich mich davon seltsam berührt. Ich war ihm wichtig gewesen. Natürlich konnte man seine Motive vor und nach meiner Geburt nicht gerade moralisch einwandfrei nennen – aber jetzt glaubte ich wieder, dass ich ihm immer etwas bedeutet hatte.
»Ich fand Charlotte«, fuhr er fort, »und sie stellte mich vor eine Wahl. Entweder sollte ich sofort wieder gehen und euch beide nie mehr sehen, oder ich sollte dich zu mir nach Hause mitnehmen. Um dich hier in Boston aufzuziehen. Charlotte sagte, das wäre für dich sogar die bessere Alternative. Sie hatte mich nicht darum bitten wollen, weil ich immerhin riskierte, meine Familie zu zerstören. Als ich sagte, du könntest für unsere Familie nur eine Bereicherung sein, hat sie zugestimmt, dich gehen zu lassen. Ihre einzige Bedingung war, dass sie dich nie wiedersehen wollte, weil sie es bestimmt nicht ertragen würde, ein zweites Mal Abschied zu nehmen.«
»Eine andere Wahl hat sie dir nicht gelassen? Was war mit geteiltem Sorgerecht?«
»Sie hat darauf bestanden, dass es nur diese zwei Möglichkeiten gab. Ansonsten hat sie sich sehr vage ausgedrückt, aber dieser Punkt war glasklar. Sie hat gesagt, es ginge um deine Sicherheit – nicht um dein Wohlergehen oder dein Glück, sondern um deine Sicherheit . Und ich habe ihr geglaubt. Meine Vermutung war, dass sie einen gewalttätigen Exfreund hatte, der nichts über mich – und vor allem über dich – erfahren
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