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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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Deverià betrachtete das Mädchen – mit einem Blick allerdings, für den das Wort betrachten ein viel zu starkes Wort ist – einem wunderbaren Blick, der betrachtet, ohne zu fragen, der sieht und weiter nichts – wie zwei Dinge, die sich berühren – die Augen und der Anblick – ein Blick, der in der vollkommenen Stille des Geistes nicht nimmt, sondern empfängt, der einzige Blick, der uns wirklich retten könnte – jungfräulich gegenüber jeglicher Frage, unberührt noch vom Laster des Wissens – die einzige Unschuld, die den Wunden, die durch die Dinge, die von außen in den Umkreis unseres Fühlens treten – sehen – fühlen –, zuvorkommen könnte. Denn das wäre nichts anderes als ein wunderbares Sich-gegenüber-Stehen – wir und die Dinge, die ganze Welt in die Augen aufnehmen – aufnehmen – ohne Fragen, ohne Verwunderung gar – aufnehmen – allein – die Welt – aufnehmen – in die Augen. Nur die Madonnenaugen unter den Kirchenbögen wissen auf solche Weise den Engel zu schauen, der herabgestiegen ist aus goldenen Himmelswelten zur Stunde der Verkündigung.
    Dunkel. Im verborgenen ihres von leichten Decken wolkengleich gerundeten Bettes drängt sich Ann Deverià an den unbekleideten Körper des Mädchens. Ihre Finger gleiten über die unbeschreibliche Haut, und die Lippen suchen in den verstecktesten Furchen das linde Aroma des Schlafes. Langsam bewegt sich Ann Deverià. Ein Tanz in Zeitlupe, der nach und nach etwas löst im Kopf und zwischen den Beinen und überall. Es gibt keinen geeigneteren Tanz als diesen, um mit dem Schlaf im Kreis zu tanzen auf dem nächtlichen Parkett.
    Das letzte Licht hinter dem letzten Fenster verlischt. Nur die unaufhaltsame Maschinerie des Meeres reißt die Stille auf mit der sich regelmäßig wiederholenden Explosion nächtlicher Wellen, ferne Erinnerungen an nachtwandlerische Stürme und geträumte Schiffbrüche.
    Nacht über der Pension Almayer.
    Reglose Nacht.
     
    Bartleboom erwachte müde und mißgestimmt. Stundenlang hatte er im Traum mit einem italienischen Kardinal über den Erwerb der Kathedrale von Chartres verhandelt und schließlich ein Kloster in der Nähe von Assisi erworben. Und das zum Wucherpreis von sechzehntausend Kronen, dazu eine Nacht mit seiner Kusine Dorothea und ein Viertel der Pension Almayer. Die Verhandlung hatte ausgerechnet auf einem gefährlich in den Strömungen schlingernden Schiff stattgefunden, das von einem Herrn befehligt wurde, der behauptete, Madame Deveriàs Ehemann zu sein, und lachend – lachend – gestand, vom Meer nicht die geringste Ahnung zu haben. Als er aufwachte, war er erschöpft. Es erstaunte ihn nicht, wie üblich den Jungen zu erblicken, der rittlings auf dem Fensterbrett saß und reglos aufs Meer schaute. Allerdings war er verblüfft, als er ihn, der sich nicht einmal umdrehte, sagen hörte:
    »Dem da hätte ich sein Kloster vor die Füße geworfen.«
    Bartleboom stieg aus dem Bett, packte den Jungen ohne ein Wort beim Arm und zog ihn vom Fensterbrett, zur Tür hinaus und schließlich die Treppe hinunter:
    »Fräulein Dira!« brüllend, stolperte er die Stufen hinunter und landete schließlich im Erdgeschoß, wo er
    »FRÄULEIN DIRA!«
    zum guten Schluß fand, was er suchte, die Rezeption nämlich – wenn man sie als solche bezeichnen wollte. Den Jungen weiterhin fest gepackt, fand er sich also Fräulein Dira gegenüber – zehn Jahre alt, nicht eines mehr –, blieb endlich stehen, mit stolzer Haltung und finsterer Miene, die durch die menschliche Blöße eines gelben Nachthemds nur teilweise abgeschwächt, durch die Kombination desselben mit einer grobmaschigen wollenen Nachtmütze allerdings nachhaltiger beeinträchtigt wurde.
    Dira blickte von ihren Rechnungen auf. Die beiden – Bartleboom und der Junge – standen in Habachtstellung vor ihr. Sie sprachen nacheinander, als hätten sie es einstudiert.
    »Dieser Junge liest in meinen Träumen.«
    »Dieser Mann spricht im Schlaf.«
    Dira senkte den Kopf wieder über ihre Abrechnungen. Sie hob nicht einmal die Stimme.
    »Verschwindet.«
    Sie verschwanden.

6
     
    Denn das Meer hatte der Baron von Carewall nie gesehen. Seine Ländereien waren Land: und Steine, Hügel, Sümpfe, Felder, schroffe Abhänge, Berge, Wälder und Lichtungen. Land. Meer gab es dort keines.
    Für ihn war das Meer eine Idee. Oder genauer gesagt, eine Abfolge von Phantasiebildern. Es war etwas, das im – durch Gottes Hand zweigeteilten – Roten Meer entsprang und sich, im

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