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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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Gedanken an die Sintflut, ausgebreitet hatte; an der Stelle verwischte es sich, um später in den bauchigen Umrissen einer Arche wieder aufzutauchen und sich übergangslos mit dem Gedanken an Walfische zu verbinden – die er zwar nie gesehen, sich aber oft genug vorgestellt hatte –, von wo es – jetzt wieder ziemlich deutlich – in die wenigen Geschichten einfloß, die ihm zu Ohren gekommen waren, Geschichten von monströsen Fischen und Drachen und Untermeeresstädten, ein Crescendo phantastischer Pracht, das jählings zu den strengen Gesichtszügen eines seiner Vorfahren – für alle Zeiten in der eigens dafür eingerichteten Galerie eingerahmt – verkümmerte, von dem behauptet wurde, er sei ein Abenteurer an der Seite Vasco da Gamas gewesen: Von seinen etwas bösartigen Augen aus nahm die Vorstellung vom Meer nun einen unseligen Weg, sprang über einige Ungewisse Berichte mit freibeuterischen Übertreibungen, verhaspelte sich in einem Zitat des heiligen Augustinus, wonach der Ozean das Haus des Teufels sei, ging zurück auf einen Namen – Thessala –, der vielleicht ein versunkenes Schiff bezeichnete oder eine Amme, die Märchen von Schiffen und Kriegen erzählte, rührte leicht an den Duft gewisser Stoffe, die aus fernen Ländern bis zu ihm gelangt waren, und kam schließlich wieder zum Vorschein in den Augen einer Frau aus Übersee, die er viele Jahre zuvor kennengelernt und nie wiedergesehen hatte, um schließlich, am Ende einer derartigen geistigen Schiffsreise, bei dem Duft einer Frucht anzugelangen, von der man ihm berichtet hatte, sie wachse nur an der Meeresküste in südlichen Ländern: und wenn man sie äße, schmecke man das Aroma der Sonne. Da der Baron von Carewall es niemals gesehen hatte, reiste das Meer in seinem Geist wie ein blinder Passagier auf einem im Hafen liegenden Segelschiff mit eingerollten Segeln: arglos und überflüssig.
    Dort hätte es in Ewigkeit liegen bleiben können. Statt dessen wurde es unvermittelt aufgescheucht durch die Worte eines schwarz gekleideten Mannes namens Atterdel, durch das unerbittliche Urteil eines Mannes der Wissenschaft, den man gerufen hatte, ein Wunder zu vollbringen.
    »Ich werde Ihre Tochter retten. Und zwar mit dem Meer.« 
     
    Ins Meer hinein . Es war nicht zu fassen. Das verpestete, verrottete Meer, Sammelbecken des Grausens, antikes und heidnisches menschenfressendes abgrundtiefes Ungeheuer, seit jeher gefürchtet, und jetzt plötzlich fordern sie dich auf wie zu einem Spaziergang, befehlen sie dir zur Therapie, drängen sie dich mit unerbittlicher Höflichkeit, ins Meer hinein zu steigen. Die Modetherapie heutzutage. Möglichst kaltes und stark salzhaltiges, bewegtes Meer, wobei die Welle ein wesentlicher Bestandteil der Kur ist, denn sie birgt Schreckliches in sich, das technisch überwunden und moralisch beherrscht werden muß, eine Herausforderung, die furchtbar – wenn man es recht bedenkt – furchtbar ist. Das alles in der Gewißheit – sagen wir, in der Überzeugung –, daß der große Schoß des Meeres die Kapsel der Krankheit sprengen, die Kanäle des Lebens ankurbeln, die wohltuenden Absonderungen der Hauptund Nebendrüsen vermehren wird, als ideale Tinktur für Wasserscheue, Melancholiker, Impotente, Blutarme, Einsame, Bösewichte, Neider, und Irrsinnige.
    So wie der Irrsinnige, den man in Brixton den undurchdringlichen Blicken von Ärzten und Wissenschaftlern aussetzte, ihn mit Gewalt ins eiskalte, von den Wellen aufgewühlte Wasser tauchte und wieder herauszog, Reaktionen und Gegenreaktionen maß und ihn aufs neue – gewaltsam, versteht sich – untertauchte, bei acht Grad Celsius mit dem Kopf unter Wasser; er taucht auf wie ein Gebrüll, mit animalischer Kraft befreit er sich von den Pflegern und sonstigem Personal, alles geübte Schwimmer, was allerdings nichts nützt gegen das blinde Wüten des Tiers, das fortläuft – fortläuft – nackt durch das Wasser rennend und die Wut über die vernichtende Strafe, die Scham und den Schrecken herausbrüllt. Der ganze Strand ist gelähmt vor Entsetzen, während das Tier rennt und rennt und die Frauen in der Ferne den Blick abwenden, obwohl sie es gerne sähen – und wie gerne sie es sähen –, das Tier in seinem Lauf und, sprechen wir es aus, seine Nacktheit, gerade die, die ruckartig im Meer torkelnde Nacktheit, geradezu schön anzusehen in dem grauen Licht, von einer Schönheit, die all die Jahre frommer Pensionatserziehung und Schamröte aufweicht und geradewegs hinläuft,

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