Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
wieder zum Fenster. Einige Sekunden lang war er unfähig, überhaupt irgend etwas zu denken. Dann sah er auf der Allee unter sich die kleine Kolonne vorbeiziehen, die Adams ins Nichts zurückführte. Er fragte sich nicht, was er tun sollte. Er tat es einfach.
Wenige Augenblicke später stand er vor Adams, umringt vom Staunen der Anwesenden und leicht außer Atem nach dem schnellen Lauf. Er schaute Adams in die Augen und fragte leise:
»Woher weißt du das?«
Adams schien ihn nicht einmal zu bemerken. Er blieb weiterhin an irgendeinem merkwürdigen Ort, der Tausende von Kilometern entfernt zu sein schien. Doch seine Lippen bewegten sich, und alle hörten, wie seine Stimme sagte:
»Weil ich sie gesehen habe.«
Langlais waren viele Fälle wie der von Adams vorgekommen. Seeleute, die ein Sturm oder auch die Grausamkeit der Piraten an eine beliebige Küste irgendeines unbekannten Kontinents verschlagen hatte, Geiseln des Zufalls und Beute von Stämmen, für die der weiße Mann nicht viel mehr war als eine bizarre Tierart. Wenn ein gnädiger Tod sie nicht beizeiten holte, dann war es eben ein anderer, erbarmungsloser Tod, der sie in irgendeinem stinkenden oder prächtigen Winkel unglaubhafter Welten erwartete. Wenige nur wurden von einem Schiff geborgen, kamen lebendig da wieder heraus und in die zivilisierte Welt zurück; an ihnen hafteten jedoch die unabwendbaren Merkmale ihrer eigenen Katastrophe. Wracks, die den Verstand verloren hatten, aus der Fremde zurückgeschickter menschlicher Abschaum. Verlorene Seelen.
Langlais wußte das alles. Dennoch nahm er Adams zu sich. Er entriß ihn dem Elend und brachte ihn in seinen Palast. In welche Welt auch immer sein Seelenleben sich geflüchtet haben mochte, er würde ihn da abholen. Und ihn zurückführen. Nicht, daß er ihn retten wollte. Ganz so war es nicht. Er wollte die Geschichten retten, die in ihm verborgen waren. Gleichgültig, wieviel Zeit er dazu brauchen würde: er wollte die Geschichten, und er würde sie bekommen.
Er wußte, daß Adams ein Mann war, den das eigene Leben zugrunde gerichtet hatte. Er stellte sich dessen Seele vor als ein friedvolles Dorf, das in der stürmischen Invasion einer wirbelnden Menge an Bildern, Gefühlen, Gerüchen, Tönen, Schmerzen und Worten geplündert und in alle Winde vertrieben worden war. Der Zustand des Todes, den er nach außen hin vorspiegelte, war das paradoxe Ergebnis eines explodierten Lebens. Ein nicht aufzuhaltendes Chaos, das unter seiner Stummheit und seiner Regungslosigkeit brodelte.
Langlais war kein Arzt und hatte noch nie jemanden gerettet. Aber aus seinem eigenen Leben hatte er die unvorhersehbare therapeutische Kraft der Genauigkeit gelernt. Er selbst, so konnte man sagen, behandelte sich ausschließlich mit der Genauigkeit. Es war das Medikament, das – in jedem Schlückchen seines Lebens aufgelöst – das Gift der Verirrung fernhielt. Er dachte deshalb, daß Adams’ unangreifbares Entferntsein sich allein durch tägliches geduldiges Einüben von Genauigkeiten lösen könnte. Er fühlte, daß es auf eine bestimmte Weise eine liebenswerte Genauigkeit sein müßte, die nur ganz sacht von der Kälte eines mechanischen Ritus berührt und in der milden Wärme der Poesie zu pflegen war. Lange suchte er danach in der Welt der Dinge und Gesten, die ihn umgab. Und fand sie schließlich. Und denen, die es wagten, ihn nicht ohne einen gewissen Sarkasmus zu fragen:
»Was soll das für eine Wundermedizin sein, mit der Sie Ihren Wilden zu retten gedenken?«, beliebte er zu antworten:
»Mit meinen Rosen.«
Wie ein Kind wohl ein verirrtes Vögelchen in die künstliche milde Wärme eines Stoffnestes setzen würde, so setzte Langlais Adams in seinen Garten. Ein bewundernswerter Garten, in dem die raffiniert angeordneten Kompositionen das Ausbrechen der vielen Farben in Schach hielten und die Disziplin eiserner Symmetrien die einzigartige Nachbarschaft von aus aller Welt stammenden Blumen und Pflanzen regelte. Ein Garten, in dem das Chaos des Lebens eine göttlich exakte Gestalt annahm, Das war es, was Adams langsam zu sich selbst zurückführte. Monatelang blieb er schweigsam, widmete sich willig allein dem Erlernen von tausend – präzisen – Regeln. Dann wurde aus seiner Abwesenheit langsam eine undeutliche Anwesenheit, die hier und da von kurzen Sätzen durchzogen und nicht mehr vom hartnäckigen Überleben des Tieres bestimmt war, das sich in ihm versteckt hielt. Wer ihn ein Jahr später zu Gesicht bekam,
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