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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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haben, um auf der anderen Seite herunterzuspringen.
    »Plasson … ich muß Plasson finden … ich muß es ihm sagen … Verflixt, so schwer war das nun auch wieder nicht, man brauchte nur ein wenig darüber nachzudenken …«
    Heftig keuchend sucht er nach seiner Wollmütze. Er kann sie nicht finden. Was einleuchtet: Er hat sie auf dem Kopf. Er läßt das Suchen sein. Rennt aus dem Zimmer.
    »Bis später, Dood.«
    »Bis später.«
    Der Junge bleibt, wo er ist, die Augen fest aufs Meer gerichtet. Er bleibt noch eine Weile dort. Dann vergewissert er sich, daß niemand in der Nähe ist und springt mit einem Satz vom Fensterbrett. Zur Strandseite hin, versteht sich. 
     
    Eines Morgens wachten sie auf, und nichts war mehr da. Nicht nur ihre Abdrücke im Sand waren verschwunden. Alles war verschwunden. Sozusagen.
    Ein unbeschreiblich dichter Nebel.
    »Das ist kein Nebel, das sind Wolken.«
    Unbeschreiblich dichte Wolken.
    »Das sind Meereswolken. Die am Himmel stehen hoch. Die, die vom Meer kommen, liegen tief. Sie kommen nur selten. Dann gehen sie wieder.«
    Sie wußte eine Menge, diese Dira.
    Sicher, was man sah, wenn man hinausschaute, war beeindruckend. Am Abend vorher war der Himmel noch sternenklar gewesen, märchenhaft. Und jetzt: als stünde man in einer Tasse Milch. Nicht zu reden von der Kälte. Als stünde man in einer Tasse kalter Milch.
    »In Carewall ist es genauso.«
    Pater Pluche stand wie verzaubert, die Nase an der Fensterscheibe plattgedrückt.
    »Er hält sich tagelang. Er bewegt sich um keinen Zentimeter. Das ist Nebel. Richtiger Nebel. Und wenn er kommt, findet man sich nicht mehr zurecht. Die Leute gehen auch tagsüber mit Fackeln in der Hand nach draußen. Um sich zu orientieren. Aber das nützt auch nicht viel. Des Nachts allerdings … kommt es vor, daß man sich überhaupt nicht mehr auskennt. Denken Sie nur, Arlo Crut hat sich eines Abends auf dem Heimweg im Haus geirrt und ist geradewegs im Bett von Metel Crut, seinem Bruder, gelandet. Metel, der wie ein Stein schlief, hat gar nichts bemerkt, aber seine Frau, die hat ihn bemerkt. Den Mann, der zu ihr ins Bett schlüpfte. Unglaublich. Na, und wissen Sie, was sie zu ihm sagte?«
    An diesem Punkt fand in Pater Pluches Kopf der übliche Wettstreit statt. Zwei schöne Sätze preschten aus den Startblöcken des Gehirns, ihr Ziel, die Stimme nämlich, mit der sie ins Freie treten wollten, deutlich vor Augen. Der sinnvollere von beiden – man bedenke, daß es sich immerhin um die Stimme eines Geistlichen handelte – war sicher der:
    »Tu es, und ich schreie.«
    Der aber hatte den Makel, der falsche zu sein. Der andere siegte, der richtige.
    »Tu es, oder ich schreie.«
    »Pater Pluche.«
    »Was habe ich denn gesagt?«
    »Was haben Sie denn gesagt?«
    »Ich habe etwas gesagt?«
    Sie hielten sich alle in dem großen, zum Meer gelegenen Gesellschaftszimmer auf, geschützt vor der Überschwemmung der Wolken, aber nicht vor dem unangenehmen Gefühl, nicht recht zu wissen was tun. Die eine Sache ist, nichts zu tun. Die andere, nichts tun zu können. Das ist etwas anderes. Sie kamen sich alle ein bißchen ratlos vor. Wie Fische im Aquarium. Der Unruhigste war Plasson: In Schaftstiefeln und Anglerjacke irrte er nervös umher und spähte durch die Fensterscheiben nach der milchig-weißen Flut, die keinen Millimeter nachgab.
    »Es sieht tatsächlich aus, als sei’s ein Bild von Ihnen«, bemerkte Ann Deverià, die, tief in einem Korbsessel versunken, das Schauspiel gleichfalls beobachtete, mit erhobener Stimme. »Alles so wunderbar weiß.«
    Plasson ging weiter auf und ab. Als hätte er überhaupt nichts gehört.
    Bartleboom blickte von seinem Buch auf, in dem er lustlos blätterte.
    »Sie sind zu streng, Madame Deverià. Herr Plasson versucht, etwas sehr Schwieriges zu vollbringen. Und seine Bilder sind auch nicht weißer als die Seiten meines Buches hier.«
    »Sie schreiben ein Buch?« fragte Elisewin von ihrem Stuhl vor dem großen Kamin aus.
    »So etwas Ähnliches wie ein Buch.«
    »Hast du gehört, Pater Pluche, Herr Bartleboom schreibt Bücher.«
    »Nein, nein, es ist kein richtiges Buch …«
    »Eine Enzyklopädie ist es«, enthüllte Ann Deverià.
    »Eine Enzyklopädie?«
    Das Startzeichen. Manchmal reicht ein Nichts aus, um das große milchige Meer zu vergessen, das einem in der gleichen Zeit Streiche spielt. Manchmal genügt womöglich der heisere Ton eines seltsamen Wortes. Enzyklopädie. Ein einziges Wort nur. Durchgestartet. Alle ohne Ausnahme:

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