Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
bedauert, daß es an einem schönen Gebetbuch mangelt.«
»Bartleboom, ein Wissenschaftler sollte nicht beten, ein richtiger Wissenschaftler sollte nicht einmal daran denken zu … (stopp).«
»Im Gegenteil! Gerade, weil wir die Natur erforschen und die Natur nichts anderes ist als der Spiegel …«
»Er hat auch ein sehr schönes über einen Arzt geschrieben. Das ist doch auch ein Wissenschaftler, oder?«
»Was soll das heißen, über einen Arzt?«
»Es heißt Gebet eines Arztes, der einen Kranken rettet und sich in dem Augenblick, in dem jener geheilt aufsteht, unendlich müde fühlt.«
»Wie bitte?«
»Das ist doch kein Name für ein Gebet.«
»Ich habe doch gesagt, daß Pater Pluches Gebete nicht wie die anderen sind.«
»Aber sind sie denn alle so überschrieben?«
»Einige Überschriften habe ich kürzer gefaßt, aber dies ist doch der Grundgedanke.«
»Nennen Sie uns noch ein paar andere, Pater Pluche …«
»Aha, jetzt interessieren Sie sich auf einmal für Gebete, was, Plasson?«
»Ich weiß nicht … Es gibt das Gebet für ein Kind, das das ›R‹ nicht rollen kann, oder beispielsweise das Gebet eines Mannes, der in eine Schlucht fällt und nicht sterben will …«
»Das kann nicht wahr sein …«
»Na ja, dieses ist zwangsläufig sehr kurz, wenige Wörter nur … oder das Gebet eines Alten, dem die Hände zittern, so etwas eben …«
»Aber das ist ja außerordentlich!«
»Und wie viele haben Sie schon geschrieben?«
»Schon einige … sie sind nicht leicht zu schreiben, manchmal möchte man gern, aber wenn die Inspiration fehlt …«
»Aber so in etwa, wie viele?«
»Bis jetzt … sind es 9502.«
»Nein …«
»Aber das ist ja Wahnsinn …«
»Zum Teufel, Bartleboom, im Vergleich dazu ist Ihre Enzyklopädie nur ein Merkheftchen.«
»Wie machen Sie das bloß, Pater Pluche?«
»Ich weiß nicht.«
»Gestern hat er ein wunderschönes geschrieben.«
»Elisewin …«
»Wirklich.«
»Elisewin, bitte …«
»Gestern abend hat er eines über Sie geschrieben.«
Alle verstummen plötzlich.
Gestern abend hat er eines über Sie geschrieben.
Während sie das aussprach, sah sie keinen von ihnen an.
Gestern abend hat er eines über Sie geschrieben.
Sie schaute anderswohin, als sie es aussprach, und dahin drehen sich jetzt alle überrascht um.
Ein Tisch neben der gläsernen Eingangstür. Am Tisch saß ein Mann, eine erloschene Pfeife in der Hand. Adams. Keiner weiß, seit wann er da ist. Womöglich war er eine Sekunde zuvor erst gekommen, womöglich ist er immer schon da.
»Gestern abend hat er eines über Sie geschrieben.«
Alle verharren reglos. Nur Elisewin steht auf und geht auf ihn zu.
»Es heißt Gebet eines Mannes, der seinen Namen nicht nennen will.«
Aber mit Zartheit. Sie sagt es mit Zartheit.
»Pater Pluche glaubt, Sie seien Arzt.«
Adams lächelt.
»Nur manchmal.«
»Ich glaube aber, Sie sind Seemann.«
Still, die anderen alle. Versteinert. Aber sie verpassen kein Wort, kein einziges.
»Nur manchmal.«
»Und was sind Sie hier, heute?«
Adams schüttelt den Kopf.
»Nur jemand, der wartet.«
Elisewin steht aufrecht vor ihm.
Sie hat eine präzise, ganz einfache Frage im Sinn:
»Worauf warten Sie?«
Drei Wörter nur. Aber sie kann sie nicht aussprechen, weil einen Augenblick zuvor eine Stimme in ihrem Kopf ihr zuflüstert:
Frag mich nicht, Elisewin, frag mich nicht, ich bitte dich.
So bleibt sie regungslos vor ihm stehen, ohne etwas zu sagen, die Augen fest in die von Adams geheftet, die stumm wie Steine sind.
Stille.
Dann blickt Adams über sie hinweg und sagt:
»Die Sonne scheint ganz herrlich heute.«
Jenseits der Fensterscheiben haben sich alle Wolken klaglos aufgelöst, und die klare, blendende Luft läutet den aus dem Nichts auferstandenen Tag ein.
Strand. Und Meer.
Licht.
Der Nordwind.
Die Stille der Gezeiten.
Tage. Nächte.
Eine Liturgie. Eine versteinerte, wenn man genau hinschaut. Versteinert.
Personen wie die Gesten einer Zeremonie.
Etwas anderes als Menschen.
Gesten.
Die schleichende alltägliche Zeremonie saugt sie auf, verwandelt sie in Sauerstoff, zu einem engelhaften surplace.
Die perfekte Küstenlandschaft setzt sie im Stoffwechsel um, verwandelt sie in Figuren für seidene Fächer.
Mit jedem Tag unverwandelbarer.
Einen Schritt weit vom Meer aufgestellt, entstehen sie und vergehen gleichzeitig, und in den Hohlräumen einer eleganten Leere erhalten sie den Trost einer vorübergehenden Nichtexistenz.
Auf diesem Trompe-l’œil
Weitere Kostenlose Bücher