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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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glatt.
    »Habe ich mich im Zimmer geirrt?«
    »Nein, nein … ich bin es, der … Wissen Sie, mein Zimmer liegt oben, im ersten Stock, aber es geht auf die Hügel hinaus, das Meer ist nicht zu sehen: Ich hatte es sicherheitshalber so gewählt.«
    »Sicherheitshalber?«
    »Lassen wir das, das ist eine lange Geschichte … Jedenfalls wollte ich sehen, welche Sicht man von hier aus hat, aber jetzt will ich nicht weiter stören, ich wäre nie hergekommen, wenn ich gewußt hätte …«
    »Bleiben Sie nur, wenn Sie möchten.«
    »Nein, ich gehe jetzt. Sie haben sicher eine Menge zu tun, sind Sie gerade erst angekommen?«
    Adams stellte sein Gepäck auf den Boden.
    »Wie dumm von mir, natürlich sind Sie gerade erst angekommen … na gut, also, ich gehe dann. Ach so … ich heiße Pluche, Pater Pluche.«
    Adams nickte zustimmend.
    »Pater Pluche.«
    »Richtig.«
    »Auf bald, Pater Pluche.«
    »Ja, auf bald.«
    Er verzog sich in Richtung Tür und ging hinaus. Als er an der Rezeption – wenn wir sie so nennen wollen – vorbeikam, fühlte er sich verpflichtet zu brummeln:
    »Ich wußte ja nicht, daß jemand ankommen würde, ich wollte nur sehen, wie die Sicht aufs Meer ist …«
    »Das macht doch nichts, Pater Pluche.«
    Er war schon fast draußen, als er plötzlich stehenblieb, umkehrte, sich leicht über die Theke beugte und Dira leise fragte:
    »Ob er Arzt ist, was meinen Sie?«
    »Wer?«
    »Er.«
    »Fragen Sie ihn doch.«
    »Das scheint mir keiner zu sein, der darauf brennt, sich Fragen anzuhören. Er hat mir nicht einmal gesagt, wie er heißt.«
    Dira zögerte etwas.
    »Adams.«
    »Adams und nichts weiter?«
    »Adams und nichts weiter.«
    »Aha.«
    Er wäre jetzt gegangen, wenn er nicht noch etwas zu sagen gehabt hätte.
    Und das sagte er noch etwas leiser:
    »Seine Augen … Er hat Augen wie ein jagendes Tier.«
    Jetzt war er wirklich fertig. 
     
    Ann Deverià, die in ihrem violetten Mantel am Ufer entlangspaziert. Neben ihr ein junges Mädchen namens Elisewin mit ihrem weißen Schirmchen. Sechzehnjahre alt ist sie. Womöglich wird sie sterben, vielleicht aber auch leben. Wer weiß. Ann Deverià spricht, ohne die Augen von dem Nichts, das vor ihr liegt, abzuwenden. Vor ihr, in vielerlei Hinsicht.
    »Mein Vater wollte nicht sterben. Er wurde immer älter, starb aber nicht. Die Krankheiten zehrten an ihm, aber er klammerte sich unbeirrt ans Leben. Zum Schluß verließ er nicht einmal mehr sein Zimmer. Mit allem mußte man ihn versorgen. Jahre ging es so. Er hatte sich in einer Art Trutzburg verschanzt, die er sich im verborgensten Winkel seiner selbst aufgebaut hatte und die nur ihm gehörte. Er verzichtete auf alles, hielt aber wild entschlossen an den einzigen zwei Dingen fest, die ihm wirklich etwas bedeuteten: schreiben und hassen. Er schrieb mühsam mit der einen Hand, die er noch bewegen konnte. Und haßte mit den Augen. Sprechen, das tat er nicht mehr, bis zum Schluß nicht. Er schrieb, und er haßte. Als er starb – denn schließlich starb er dann doch –, nahm meine Mutter seine bekritzelten Blätter – es waren an die hundert – und las sie eines nach dem anderen. Es standen die Namen aller darin, die er gekannt hatte, alle nacheinander aufgelistet. Und neben jedem die minutiöse Beschreibung eines grauenvollen Todes. Ich habe sie nicht gelesen, diese Blätter. Aber die Augen – diese Augen, die bis zum Schluß in jeder Minute eines jeden Tages voller Haß waren, die hatte ich gesehen. Und wie ich sie gesehen hatte. Meinen Mann habe ich geheiratet, weil er gute Augen hatte. Das war das einzige, was mir wichtig war. Er hatte gute Augen.
    Nun, das Leben verläuft nicht so, wie du es dir vorstellst. Es geht seinen Weg. Und du deinen. Und das ist nicht derselbe Weg. So ist das. Es ist nicht so, daß ich unbedingt glücklich sein wollte, das nicht gerade. Ich wollte … mich retten, ja: mich retten. Aber ich habe erst spät begriffen, aufweiche Seite man sich schlagen muß: auf die Seite der Sehnsüchte. Man erwartet eigentlich, daß es andere Dinge sind, durch die Menschen gerettet werden können: Pflichterfüllung, Ehrlichkeit, gut sein, gerecht sein. Nein. Es sind die Sehnsüchte, die einen erretten. Sie sind das einzig Wahre. Bist du auf ihrer Seite, wirst du dich retten. Aber als ich das begriff, war es schon zu spät. Wenn du dem Leben Zeit läßt, nimmt es eine eigenartige, unvermeidliche Wendung; und du stellst fest, daß du dich an dem Punkt nicht nach etwas sehnen kannst, ohne dir selbst weh zu tun.

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