Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
Bartleboom, Elisewin, Pater Pluche, Plasson. Und Madame Deverià.
»Bartleboom, spielen Sie nicht den Bescheidenen, erklären Sie der jungen Dame die Sache mit den Grenzen, die der Flüsse und so fort.«
»Es heißt Enzyklopädie der in der Natur anzutreffenden Grenzen …«
»Ein schöner Titel. Im Priesterseminar hatte ich mal einen Lehrer …«
»Lassen Sie ihn aussprechen, Pater Pluche …«
»Seit zwölf Jahren arbeite ich daran. Eine komplizierte Sache … ich erforsche praktisch, bis wohin die Natur vordringen kann, oder besser: wo sie ihr Ende festsetzt. Denn zu einem Ende kommt sie immer, manchmal früher, manchmal später. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Beispielsweise …«
»Geben Sie ihr das Beispiel mit den Kopronen.«
»Nun, das ist ein etwas außergewöhnlicher Fall …«
»Haben Sie sie schon gehört, Plasson, die Geschichte mit den Kopronen?«
»Na, hören Sie, liebe Madame Deverià, die Geschichte hat er doch mir erzählt, und Sie haben sie wiederum von mir erfahren.«
»Alle Achtung, das war ja ein ganz langer Satz, Plasson, meine Hochachtung, Sie machen Fortschritte.«
»Was hat es denn nun mit diesen Kopronen auf sich?«
»Kopronen leben in den Eisbergen im Norden. Es sind – auf ihre Art – perfekte Tiere. Sie altern praktisch nicht. Wenn sie wollten, könnten sie ewig leben.«
»Grauenhaft.«
»Doch Achtung. Die Natur überwacht alles, nichts entgeht ihr. Und so geschieht nun folgendes: An einem gewissen Punkt, wenn sie so um die Siebzig, Achtzig sind, hören die Kopronen einfach auf zu fressen.«
»Nein.«
»Doch. Sie hören einfach auf zu fressen. Sie leben dann durchschnittlich noch weitere drei Jahre in dem Zustand. Dann sterben sie.«
»Drei Jahre, ohne zu fressen?«
»Durchschnittlich. Manche halten auch länger durch. Aber zum Schluß, und das ist das Ausschlaggebende, sterben sie. Das ist wissenschaftlich erwiesen.«
»Aber das ist ja Selbstmord!«
»In einem gewissen Sinne.«
»Und Ihrer Ansicht nach sollen wir Ihnen das glauben, Bartleboom?«
»Sehen Sie hier, ich habe auch eine Zeichnung … die Zeichnung eines Kopronen …«
»Zum Teufel, Bartleboom, Sie hatten recht, Sie zeichnen wirklich miserabel, ich habe wahrhaftig noch nie eine so miserable Zeichnung … (stopp).«
»Die ist nicht von mir … Das war der Seemann, der mir die Geschichte erzählt hat, der hat es gezeichnet …«
»Ein Seemann?«
»Die ganze Geschichte haben Sie von einem Seemann?«
»Ja, wieso?«
»Oh, mein Kompliment, Bartleboom, wahrhaft wissenschaftlich erwiesen …«
»Ich glaube Ihnen.«
»Danke, Fräulein Elisewin.«
»Ich glaube Ihnen, und Pater Pluche auch, nicht wahr?«
»Sicher … eine absolut wahrscheinliche Geschichte, im Gegenteil, wenn ich genau darüber nachdenke, hatte ich sie sogar schon einmal gehört, das muß im Priesterseminar gewesen sein …«
»Man lernt ja wirklich eine Menge Dinge in diesen Seminaren … Gibt es auch welche für Damen?«
»Jetzt, da ich darüber nachdenke, Plasson, könnten Sie vielleicht die Illustrationen der Enzyklopädie für mich machen, das wäre doch wunderbar, nicht?«
»Müßte ich dann Kopronen zeichnen?«
»Na ja, abgesehen von den Kopronen gibt es noch eine Menge anderer Sachen … ich habe unter 872 Stichwerten geschrieben, Sie könnten sich die aussuchen, die Sie bevorzugen …«
»872?«
»Finden Sie nicht auch, Madame Deverià, daß das ein guter Einfall ist?«
»Beim Stichwort Meer könnte man gegebenenfalls auf eine Illustration verzichten …«
»Pater Pluche hat die Zeichnungen in seinem Buch selbst gemacht.«
»Elisewin, laß das.«
»Stimmt doch.«
»Jetzt sagen Sie bloß nicht, daß wir noch einen Wissenschaftler haben …«
»Es ist ein wunderschönes Buch.«
»Wirklich, Pater Pluche, Sie schreiben auch?«
»Aber nein, es handelt sich um etwas … anderes, nicht wirklich um ein Buch.«
»Wohl, es ist ein Buch.«
»Elisewin …«
»Er zeigt es nie jemandem, aber es ist wunderschön.«
»Ich vermute, es sind Gedichte.«
»Nicht ganz.«
»Aber Sie sind schon nahe dran.«
»Lieder?«
»Nein.«
»Los, Pater Pluche, lassen Sie sich nicht so lange bitten …«
»Also, genau das …«
»Genau was?«
»Nein, ich meine, apropos bitten …«
»Jetzt sagen Sie nicht …«
»Gebete, es handelt sich um Gebete.«
»Gebete?«
»Ach du liebe Zeit.«
»Aber sie sind nicht wie die anderen, die Gebete von Pater Pluche.«
»Ich halte das für einen ausgezeichneten Einfall. Ich habe immer schon
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