Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
der Seele schaukelt das silberhelle Klingen ihrer Worte als einzige wahrnehmbare Kräuselung in der Ruhe des unbenennbaren Zaubers.
»Sie glauben wohl, ich sei verrückt?«
»Nein.«
Bartleboom hat ihr die ganze Geschichte erzählt. Die Briefe, die Mahagonikassette, die Frau, die auf ihn wartet. Alles.
»Ich habe es noch nie jemandem erzählt.«
Stille. Abend. Ann Deverià. Die Haare gelöst. Ein bis auf die Füße reichendes langes weißes Nachthemd. Ihr Zimmer. Der Widerschein des Lichts auf den Wänden.
»Warum dann mir, Bartleboom?«
Er traktiert den Saum seines Jacketts, der Herr Professor. Es fällt ihm nicht leicht. Überhaupt nicht leicht.
»Weil ich möchte, daß Sie mir helfen.«
»Ich?«
»Sie.«
Es ist nun einmal so, daß manch einer sich großartige Geschichten aufbaut und womöglich jahrelang daran festhält, ganz gleich, wie verrückt und unwahrscheinlich sie auch sein mögen, er hält daran fest und Schluß. Und ist auch noch glücklich dabei. Glücklich. Es könnte immer so weitergehen. Dann, eines schönen Tages, zack, zerbricht etwas im Herzen des großartigen Phantasiegebildes, grundlos und unvermittelt zerbricht es, und du stehst da, ohne zu begreifen, wieso du diese ganze wunderbare Geschichte plötzlich nicht mehr in dir hast, sondern vor dir, als sei es die Verrücktheit eines anderen, und dieser andere bist du selbst. Zack. Manchmal genügt ein Nichts. Etwa eine Frage, die auftaucht. Das reicht schon aus.
»Madame Deverià, wie kann ich es anstellen, daß ich sie erkenne, die Frau, meine Frau, wenn ich ihr begegne?«
Wenn zum Beispiel eine derartige elementare Frage auftaucht aus den unterirdischen Höhlen, in denen man sie vergraben hatte. So etwas reicht schon aus.
»Woran werde ich sie erkennen, wenn ich ihr begegne?«
Eben.
»Haben Sie sich denn in all den Jahren diese Frage nie gestellt?«
»Nein. Ich wußte, daß ich sie erkennen würde, das ist alles. Aber jetzt habe ich Angst. Ich habe Angst, nicht imstande zu sein, zu verstehen, und dann wird sie vorübergehen. Und ich werde sie verlieren.«
Er hat wahrhaftig die ganze Pein der Welt am Hals, der Professor Bartleboom.
»Erklären Sie mir, Madame Deverià, woran ich sie erkennen kann, wenn ich ihr begegne.«
Elisewin schläft im Licht einer Kerze und eines Mädchens. Und Pater Pluche unter seinen Gebeten und Plasson im Weiß seiner Bilder. Womöglich schläft sogar Adams, das jagende Tier. Die Pension Almayer schläft, geschaukelt vom Ozean Meer.
»Schließen Sie die Augen, Bartleboom, und reichen Sie mir Ihre Hände.«
Bartleboom gehorcht. Und sofort spürt er unter seinen Händen das Gesicht der Frau und ihre Lippen, die mit seinen Fingern spielen, dann den schlanken Hals und das Öffnen der Bluse, ihre Hände, die die seinen über ihre warme und samtweiche Haut führen und sie an sich pressen, um die Geheimnisse dieses unbekannten Körpers zu erspüren, ihre Wärme an sich zu ziehen, wieder zu den Schultern hinauf zu streichen, in die Haare und wieder auf die Lippen, auf denen seine Finger hin und her gleiten, so lange, bis eine Stimme sie festhält und in die Stille hinein schreibt:
»Schauen Sie mich an, Bartleboom.«
Das Nachthemd ist ihr in den Schoß gerutscht. Ihre Augen lächeln ohne jede Verlegenheit.
»Eines Tages werden Sie eine Frau sehen und all das spüren, ohne sie auch nur im geringsten zu berühren. Geben Sie ihr Ihre Briefe. Für sie haben Sie sie geschrieben.«
Tausend Dinge rauschen durch Bartlebooms Kopf, als er die Hände zurückzieht, sie aber weiter geöffnet hält, als würde alles vorübergehen, wenn er sie schlösse.
Als er das Zimmer verließ, war er dermaßen durcheinander, daß ihm schien, im Halbdunkel die unwirkliche Gestalt eines wunderschönen Kindes wahrzunehmen, das am Fußende des Bettes eng an ein großes Kissen geschmiegt dalag. Unbekleidet. Die Haut so weiß wie eine Meereswolke.
»Wann willst du abfahren, Elisewin?« fragte Pater Pluche.
»Und du?«
»Ich will überhaupt nichts. Aber früher oder später einmal müssen wir nach Daschenbach. Dort sollst du dich behandeln lassen. Dies hier … hier ist nicht der richtige Ort, um gesund zu werden.«
»Warum sagst du so was?«
»Dieser Ort hat etwas … Krankhaftes an sich. Bemerkst du es nicht? Die weißen Bilder des Malers, die unaufhörlichen Messungen von Professor Bartleboom … und dann diese Frau, die zwar sehr schön ist, aber auch unglücklich und einsam, ich weiß nicht … gar nicht zu reden
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