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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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An dem Punkt scheitert alles, du kannst dem nicht entgehen, je mehr du um dich schlägst, desto mehr verfängst du dich in dem Netz, je heftiger du aufbegehrst, desto mehr verletzt du dich. Es gibt kein Entrinnen. Erst als es schon zu spät war, habe ich angefangen, mich zu sehnen. Mit der ganzen Kraft, die ich besaß. Ich habe mir so sehr weh getan, wie du es nicht einmal erahnen kannst.
    Weißt du, was schön ist, hier? Schau: wir gehen und lassen alle diese Abdrücke im Sand zurück, und sie bleiben bestehen, ganz deutlich und ordentlich. Aber wenn du morgen aufstehst, wirst du auf diesen großen Strand schauen, und nichts wird mehr da sein, kein Abdruck, kein anderes Zeichen, gar nichts. Das Meer löscht alles aus in der Nacht. Die Flut versteckt alles. Als wäre nie jemand hier entlanggegangen. Als hätten wir nie existiert. Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, an dem du meinen könntest, du seiest nichts, dann ist es dieser Ort hier. Nicht mehr Land, noch nicht ganz Meer. Kein unechtes Leben, kein echtes Leben. Es ist die Zeit. Zeit, die vergeht. Weiter nichts.
    Es wäre der perfekte Unterschlupf. Für jeden Feind unsichtbar. Schwebend. Weiß wie Plassons Bilder. Unsichtbar auch für dich selbst. Aber etwas fügt diesem Fegefeuer Risse zu. Es ist etwas, dem du nicht entkommen kannst. Das Meer. Das Meer betört, das Meer tötet, es ist anrührend und beängstigend, manchmal ist es zum Lachen, manchmal verschwindet es, und andere Male trägt es die Maske eines Sees, oder es baut Stürme, verschlingt Schiffe, verschenkt Reichtümer, gibt keine Antworten, es ist weise, es ist sanft, es ist mächtig und unberechenbar. Vor allem aber: Das Meer ruft. Du wirst es noch herausfinden, Elisewin. Im Grunde genommen macht es nichts anderes als dies: rufen. Es hört nie auf, dringt in dich ein, es haftet an dir, es will dich. Du kannst so tun, als ginge es dich nichts an, aber das nützt nichts. Es wird dich immer weiter rufen. Dieses Meer, das du siehst, und all die anderen, die du nie sehen wirst und die es dennoch gibt, die immerfort, einen Schritt jenseits von deinem Leben, geduldig auf der Lauer liegen. Unermüdlich wirst du sie rufen hören. Das ist es, was geschieht in diesem Fegefeuer aus Sand. Es würde in jedem beliebigen Paradies so geschehen und in jeder beliebigen Hölle. Ohne etwas zu erklären, ohne dir zu sagen, wo, wird es immer ein Meer geben, das dich ruft.«
    Ann Deverià bricht ab. Sie bückt sich, zieht die Schuhe aus. Sie läßt sie im Sand stehen. Barfuß nimmt sie ihren Gang wieder auf. Elisewin rührt sich nicht von der Stelle. Sie wartet, bis sie sich einige Schritte von ihr entfernt hat. Dann sagt sie, laut genug, um verstanden zu werden:
    »In ein paar Tagen werde ich von hier abreisen. Und ich werde ins Meer gehen. Dann werde ich gesund. Das ist es, wonach ich mich sehne. Gesund zu werden. Zu leben. Und eines Tages so schön zu sein wie Sie.«
    Ann Deverià wendet sich um. Sie lächelt. Sucht nach Worten. Findet sie:
    »Nimmst du mich mit?« 
     
    Auf Bartlebooms Fensterbrett saßen sie diesmal zu zweit. Der Junge, wie üblich. Und Bartleboom. Ihre Beine baumelten im Leeren. Ihre Augen schweiften über dem Meer.
    »Hör mal, Dood …«
    Dood hieß er, der Junge.
    »Da du ja ständig hier sitzt …«
    »Mmmmh.«
    »Womöglich weißt du es.«
    »Was?«
    »Wo hat es seine Augen, ich meine, das Meer?«
    »…«
    »Es hat doch welche, oder?«
    »Ja.«
    »Wo zum Teufel sind sie dann?«
    »Die Schiffe.«
    »Die Schiffe was?«
    »Die Schiffe sind die Augen des Meeres.«
    Bartleboom saß stumm vor Staunen. Darauf war er nun wirklich nicht gekommen.
    »Aber Schiffe gibt es doch zu Hunderten …«
    »Es hat ja auch Hunderte von Augen, das Meer. Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß es mit zweien auskommt.«
    In der Tat. Bei der ganzen Arbeit, die da anfällt. Und so groß, wie es ist. Es leuchtet ein, das alles.
    »Ja, aber dann, entschuldige mal …«
    »Mmmmh.«
    »Und die Schiffbrüche? Die Unwetter, die Taifune, alle diese Sachen … Warum sollte es die Schiffe verschlukken, wenn sie seine Augen sind?«
    Dood scheint langsam die Geduld zu verlieren. Als er sich Bartleboom zuwendet, sagt er:
    »Und Sie … machen Sie etwa nie die Augen zu?«
    Mein Gott. Er hat einfach auf alles eine Antwort, dieser Junge.
    Bartleboom überlegt. Er überlegt und grübelt und bedenkt und wägt ab. Dann springt er auf einmal mit einem Satz vom Fensterbrett. Zur Zimmerseite hin, versteht sich. Man müßte Flügel

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