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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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alles, was er im Leben hat …«
    Der Liebhaber von Ann Deverià hat endlich herausbekommen, wohin deren Ehemann sie verbannt hat. Er hat ihr geschrieben. Womöglich ist er in dieser Minute schon auf dem Weg zum Meer und zum Strand.
    »Ich würde hierherkommen und Sie mit mir fortnehmen, für immer.«
    Ann Deverià lächelt.
    »Sagen Sie mir das noch einmal, Bartleboom. In genau demselben Ton, ich bitte Sie. Sagen Sie mir das noch einmal.« 
     
    »Dahinten … dahinten ist es!«
    »Wo dahinten?«
    »Da … nein, mehr rechts, da, da ist es doch.«
    »Ich seh’s! Bei Gott, ich seh’s.«
    »Drei Masten!«
    »Drei Masten?«
    »Es ist ein Dreimaster, sehen Sie das nicht?«
    »Drei?« 
     
    »Plasson, seit wann sind wir eigentlich hier?«
    »Schon immer, Madame.«
    »Nein, ich frage im Ernst.«
    »Schon immer, Madame. Im Ernst.« 
     
    »Meiner Ansicht nach ist er Gärtner.«
    »Wieso?«
    »Er kennt die Namen der Bäume.«
    »Woher wissen Sie das, Elisewin?«
    »Ich muß schon sagen, die Sache mit dem siebten Zimmer behagt mir ganz und gar nicht.«
    »Was stört Sie daran?«
    »Ein Mann, der sich nicht zeigt, macht mir angst.«
    »Pater Pluche sagt, daß er es ist, der Angst hat.«
    »Und vor was?« 
     
    »Manchmal frage ich mich, auf was wir eigentlich warten.«
    Schweigen.
    »Daß es zu spät ist, Madame.« 
     
    Es hätte ewig so weitergehen können.

 
     
     
Zweites Buch
     
Der Leib des Meeres

Vierzehn Tage nach dem Auslaufen in Rochefort strandete die Fregatte der französischen Marine Alliance wegen der Unerfahrenheit des Kommandanten und der Ungenauigkeit der Seekarten weit draußen vor der Küste Senegals auf einer Sandbank. Alle Versuche, das Schiff frei zu bekommen, scheiterten. Es blieb nichts anderes übrig, als es zu verlassen. Da die Rettungsboote nicht ausreichten, um die gesamte Besatzung aufzunehmen, wurde ein etwa vierzig Fuß langes und halb so breites Floß gebaut und zu Wasser gelassen. 147 Männer wurden auf diesem Floß ausgesetzt: Soldaten, Seeleute, ein paar Passagiere, vier Offiziere, ein Arzt und ein Ingenieur, der Kartograph war. Der Evakuierungsplan des Schiffes sah vor, daß die vier vorhandenen Rettungsboote das Floß ans Ufer schleppen sollten. Kurz nach dem Verlassen des Wracks der Alliance brachen jedoch Panik und Chaos aus und bemächtigte sich des Konvois, der versuchte, vorsichtig die Küste zu erreichen. Aus Niedertracht oder Unfähigkeit – niemand konnte je die Wahrheit feststellen – verloren die Rettungsboote die Verbindung mit dem Floß. Das Schleppseil riß. Oder jemand schnitt es durch. Die Rettungsboote verfolgten weiter ihren Weg in Richtung Festland, und das Floß blieb sich selbst überlassen.
    Nicht einmal eine halbe Stunde später war es hinter dem Horizont verschwunden. Das erste ist mein Name, Savigny.
    Das erste ist mein Name, das zweite sind die Augen derer, die uns im Stich gelassen haben – ihre Augen waren in dem Moment starr auf das Floß geheftet, sie brachten es nicht fertig, woandershin zu schauen, aber in ihren Blicken lag gar nichts, absolut nichts, weder Haß noch Mitleid, keine Gewissensbisse, keine Angst, nichts. In ihren Augen.
    Das erste ist mein Name, das zweite jene Augen, das dritte ein Gedanke: ich muß sterben ich werde nicht sterben ich muß sterben ich werde nicht sterben ich – das Wasser steht uns bis zu den Knien; das Floß treibt unter der Wasseroberfläche, niedergedrückt vom Gewicht zu vieler Menschen – muß sterben ich werde nicht sterben ich muß sterben ich werde nicht sterben – der Geruch, der Geruch nach Angst, nach Meer und nach Körpern, das knarrende Holz unter meinen Füßen, die Stimmen, die Seile zum Festhalten, meine Kleider, meine Waffen, das Gesicht des Mannes, der – ich muß sterben ich werde nicht sterben ich muß sterben ich werde nicht sterben ich muß sterben – die Wellen ringsumher, nur nicht nachdenken, wo ist Land? Wer bringt uns hin, wer hat das Kommando? Wind, Strömung, Gebete wie Wehklagen, Gebete voller Wut, das Meer, wie es brüllt, die Angst, wie sie
    Das erste ist mein Name, das zweite jene Augen, das dritte ein Gedanke, und das vierte ist die hereinbrechende Nacht, Wolken auf dem Mondlicht, grauenhafte Finsternis, nichts als Lärm, Schreie nämlich und Wehklagen und Flüche, und das Meer steigt und beginnt, das Knäuel von Körpern nach allen Seiten hin zu fegen – es bleibt einem nur, sich festzuhalten, wo man kann, an einem Seil, an den Balken, an irgendeinem Arm, die ganze Nacht,

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