Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
küßt, untröstlich, es ist sonderbar anzuschauen, da, mittendrin, mitten in der Hölle, das Gesicht des Alten, das sich über die Lippen des Kindes beugt, seltsam anzuschauen diese Küsse, wie kann ich sie vergessen, der ich sie gesehen habe, diese Küsse, ich, ohne Gespenster, ich, den Tod vor Augen, ohne die Gnade irgendeines Gespenstes oder eines sanften Wahnsinns, ich, der ich aufgehört habe, die Tage zu zählen, aber wohl weiß, daß in jeder Nacht die Bestie wieder auftauchen wird, sie muß auftauchen, die Bestie des Grauens, das nächtliche Abschlachten, diese Schlacht, die wir führen, dieser Tod, den wir verbreiten, um nicht zu sterben, wir, die
Das erste ist mein Name, das zweite jene Augen, das dritte ein Gedanke, das vierte die hereinbrechende Nacht, das fünfte die geschundenen Körper, das sechste ist Hunger, das siebte Grauen, das achte die Gespenster des Irrsinns und das neunte das abartige Fleisch, Fleisch, Fleisch, das auf den Segelwanten dörrt, blutendes Fleisch, Fleisch, Menschenfleisch in meinen Händen, unter meinen Zähnen, Fleisch von Menschen, die ich gesehen habe, die es gab, Fleisch von lebenden Menschen, die starben, umgebrachte, zerbrochene, irre gewordene Menschen, Fleisch von Armen und Beinen, die ich habe kämpfen sehen, von den Knochen gelöstes Fleisch, Fleisch, das einen Namen hatte und das ich jetzt, wahnsinnig vor Hunger, herunterschlinge, nachdem wir tagelang am Leder unserer Gürtel und an Stofflappen gekaut haben, ist nun nichts mehr da, nichts, auf diesem gräßlichen Floß, Meerwasser und Pisse, die wir in Blechbüchsen kalt werden lassen, Zinnstücke, die wir unter die Zunge schieben, um nicht verrückt zu werden vor Durst, und Scheiße, die man nicht runterkriegen kann, von Blut und Salz verkrustete Seile, die einzige Nahrung, die nach Leben schmeckt, so lange, bis jemand, blind vor Hunger, sich über den Kadaver des Freundes beugt und weinend und sprechend und betend Fleisch von ihm abreißt und es wie ein wildes Tier in einen Winkel schleppt und anfängt, daran zu saugen und dann zu beißen und zu erbrechen und wieder zu beißen und den Ekel gewaltsam zu überwinden, um dem Tod das letzte Hintertürchen zum Leben abzuringen, ein grausamer Weg, den wir doch einer nach dem anderen allesamt einschlagen, alle gleichermaßen zu Bestien und Schakalen geworden, ein jeder stumm schließlich, mit seinem Fetzen Fleisch, den sauren Geschmack zwischen den Zähnen, die Hände besudelt mit Blut, in den Därmen der Biß eines wütenden Schmerzes, Todesgeruch, Fäulnisgestank, Haut, sich zersetzendes Fleisch, sehniges Fleisch, aus dem Wasser und Blutserum quillt, die Körper offen wie Schreie, gedeckte Tische für die Tiere, die wir sind, das Ende von allem, grausige Kapitulation, anstößiger Zusammenbruch, abscheuliche Niederlage, sündhafte Katastrophe, und ich, ich blicke – ich – blicke auf – ich blicke auf – blicke – da blicke ich auf und sehe es – ich – sehe es: das Meer. Zum erstenmal nach Tagen und Tagen sehe ich es wahrhaftig. Und höre seine gewaltige Stimme und spüre seinen starken Geruch und in mir seinen unaufhörlichen Tanz, die unendliche Welle. Alles vergeht, und nur es bleibt, vor mir, auf mir. Eine Enthüllung. Die Schicht aus Schmerz und Angst, die mir die Seele genommen hat, schmilzt, das Netz aus Erbärmlichkeiten, Grausamkeiten und Entsetzen, das mir die Augen geraubt hat, löst sich, der Schatten des Todes, der meinen Verstand gefressen hat, verflüchtigt sich, und im plötzlichen Licht einer unvermuteten Klarheit sehe ich endlich und fühle und begreife. Das Meer. Es schien Zuschauer zu sein, ein stiller Komplize sogar. Es schien Rahmen, Schauplatz, Hintergrund zu sein. Jetzt, da ich es anschaue, begreife ich: Das Meer war alles. Es war vom ersten Augenblick an alles. Ich sehe, wie es um mich herum tanzt, prächtig im eisigen Licht, wunderbares grenzenloses Ungeheuer. Es war in den mordenden Händen, in den sterbenden Toten, es war in Hunger und Durst, es war im Todeskampf, in der Niedertracht und im Wahnsinn, es war der Haß und die Verzweiflung, es war die Barmherzigkeit und der Verzicht, das Meer ist dieses Blut und dieses Fleisch hier, es selbst ist dieses Grauen und diese Pracht. Es gibt kein Floß, es gibt keine Menschen, es gibt weder Worte noch Gesten noch Gefühle, nichts. Es gibt weder Schuldige noch Unschuldige, weder Verurteilte noch Gerettete. Es gibt nur das Meer. Alles ist Meer geworden. Wir, die wir von der Welt aufgegeben
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