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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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einen Feind sucht, um ihn auf der Stelle mit in die Hölle zu reißen – und im kommenden und gehenden Licht, so erinnere ich mich, rennen diese Körper auf unsere Säbel los, Gewehrschüsse bellen, Blut spritzt aus Wunden, Füße rutschen auf den zwischen den Bohlen des Floßes eingedrückten Köpfen aus, und wie sich diese Verzweifelten mit gebrochenen Beinen bis zu einigen von uns schleppen und, nunmehr entwaffnet, uns in die Beine beißen und sich an uns festkrallen, auf den Schuß oder die Klinge wartend, die sie endgültig auslöschen, am Ende – so erinnere ich mich – sterben zwei von uns, regelrecht zerbissen von jener unmenschlichen Bestie, die aus dem Nichts der Nacht aufgetaucht ist, und Dutzende von ihnen, zermalmt, ertränkt, wie sie sich, wie hypnotisiert auf ihre Verstümmelungen starrend, über das Floß schleppen, Heilige anrufen, während sie die Hände in die Wunden der Unseren stecken und ihnen die Gedärme herausreißen – ich erinnere mich –, wie ein Mann sich auf mich stürzt, mir mit den Händen den Hals zudrückt, und während er versucht, mich zu erdrosseln, nicht einen Augenblick aufhört zu wimmern »Gnade, Gnade, Gnade«, ein unsinniges Gebaren, denn mein Leben ist in seinen Händen und das seine auf meiner Säbelspitze, die ihm schließlich in die Seite dringt, dann in den Bauch, dann in die Kehle und dann in den Kopf, der ins Wasser rollt, und dann in das, was übrigbleibt, blutiges Gewirr, eingequetscht zwischen den Bohlen des Floßes, nutzlose Marionette, in der mein Säbel sich besudelt, einmal, zweimal, drei- und vier- und fünfmal
    Das erste ist mein Name, das zweite jene Augen, das dritte ein Gedanke, das vierte die hereinbrechende Nacht, das fünfte die geschundenen Körper, das sechste ist Hunger, das siebte Grauen, und das achte sind die Gespenster des Irrsinns, sie blühen auf in einem solchen Gemetzel, auf dem grausamen, von Wellen überspülten Schlachtfeld, Körper allüberall, Körperteile, grünliche und gelbliche Gesichter, geronnenes Blut in pupillenlosen Augen, aufgebrochene Wunden, geplatzte Lippen, wie von der Erde erbrochene Kadaver, rüttelndes Erdbeben der Toten, der Sterbenden, übersät mit Eingeklemmten im Todeskampf das zusammenbrechende Skelett des Floßes, auf dem die Überlebenden – die Lebenden – sich herumtreiben, die besitzlosen Toten ausplündern, vor allem aber Irrsinn ausdünsten, jeder auf seine Weise, jeder mit seinen eigenen Gespenstern, dem Verstand abgenötigt vor Hunger, Durst, Angst und Verzweiflung. Gespenster. Alle, die Land, Land! sehen oder Schiffe am Horizont. Sie brüllen, und niemand hört sie. Einer, der dem Admiral einen formellen Protestbrief schreibt und sein Mißfallen zum Ausdruck bringt, die Niedertracht beklagt und offiziell verlangt … Worte, Gebete, Visionen, ein Schwärm fliegender Fische, eine Wolke, die den Rettungsweg weist, Mütter, Brüder, Bräute erscheinen, um Wunden zu säubern, Wasser darzureichen und Liebkosungen; jener, der fieberhaft nach seinem Spiegel sucht, seinem Spiegel, wer hat seinen Spiegel gesehen, gebt mir meinen Spiegel wieder, einen Spiegel, meinen Spiegel; ein Mann segnet die Sterbenden mit Flüchen und Wehgeschrei, und einer spricht mit dem Meer, auf dem Rand des Floßes sitzend spricht er mit leiser Stimme zu ihm, er umwirbt es, würde man sagen, und er hört seine Antworten, das Meer antwortet ihm, ein Zwiegespräch, das letzte; einige fügen sich schließlich seinen hinterlistigen Antworten und lassen sich, endlich überzeugt, ins Wasser gleiten; sie überlassen sich dem großen Freund, der sie mit sich in die Ferne nimmt und verschlingt – während auf dem Floß Leon hin und her hastet, Leon, der Junge, Leon, der Schiffsjunge, Leon ist zwölf Jahre alt und nun vom Irrsinn gepackt, vom Grauen geraubt, und so läuft er hm und her von einem Ende des Floßes zum anderen und schreit rastlos einen einzigen Schrei Mutter meine Mutter meine Mutter meine Mutter meine, Leon mit dem sanften Blick und der samtigen Haut, er rast wie wild geworden umher, Vogel im Käfig, bis er sich selbst umbringt, ihm das Herz oder wer weiß was in seinem Inneren bricht, wer weiß, was ihn so plötzlich zusammensacken läßt mit herausquellenden Augen und einem Krampf in der Brust, der ihn zerreißt und ihn am Ende auf den Boden wirft, wo er regungslos liegen bleibt und von wo ihn Gilberts Arme aufheben – Gilbert, der ihn liebte – und fest umschlingen – Gilbert, der ihn liebte und der ihn jetzt beweint und

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