Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres
im Wasser, unter Wasser, gäbe es doch nur ein Licht, irgendein Licht, dieses Dunkel ist unendlich und unerträglich das Wehklagen, von dem jeder Augenblick begleitet wird – nur an einen Augenblick, an einen Augenblick erinnere ich mich, als unter dem Hieb einer plötzlichen Welle, einer Wand aus Wasser, unvermittelt Stille herrscht, eine Stille, die das Blut gefrieren läßt, und ich schreie und schreie und schreie, Das erste ist mein Name, das zweite jene Augen, das dritte ein Gedanke, das vierte die hereinbrechende Nacht, das fünfte die geschundenen Körper, eingeklemmt zwischen den Bohlen des Floßes, ein zerfetzter, von einem Mast aufgespießter Mann, der Mast hat ihm die Brust durchstoßen und hält ihn schwankend im Tanz des Meeres fest; das Tageslicht bringt die in der Dunkelheit vom Meer ermordeten Toten zutage, einen nach dem anderen holen sie sie von ihren Galgen und geben sie dem Meer zurück, das sie sich genommen hatte, Meer von allen Seiten, kein Land, kein Schiff am Horizont, nichts – und in dieser Umgebung von nichts anderem als Kadavern geschiehres, daß ein Mann sich unter all den anderen Platz schafft und sich ohne ein Wort ins Wasser gleiten läßt und zu schwimmen anfängt, er geht fort, einfach so. Andere sehen es und folgen ihm, und in Wahrheit schwimmen einige nicht einmal, sie lassen sich ins Meer fallen, ohne sich zu bewegen, und verschwinden – es sieht geradezu zärtlich aus – sie umarmen sich, bevor sie sich dem Meer überlassen – Tränen in den Gesichtern von Männern, die niemand erwartet – dann lassen sie sich ins Meer fallen und atmen tief das salzige Wasser ein, bis es in den Lungen alles verbrennt, alles – und niemand hält sie auf, niemand
Das erste ist mein Name, das zweite jene Augen, das dritte ein Gedanke, das vierte die hereinbrechende Nacht, das fünfte die geschundenen Körper, und das sechste ist Hunger – Hunger, der im Inneren wächst, in der Kehle beißt und sich auf die Augen legt, fünf Fässer Wein und nur ein Sack Zwieback, sagt Corréard, der Kartograph: Wir können es nicht schaffen – die Männer schauen sich an, beobachten sich, das ist der Moment, in dem sich entscheidet, wie gekämpft wird, falls gekämpft wird, sagt Lheureux, der Erste Offizier. Eine Ration für jeden Mann, zwei Glas Wem und einen Zwieback – sie beobachten sich, die Männer, vielleicht ist es das Licht oder das Meer, das unbeteiligt schillert, wie ein Waffenstillstand, oder sind es Lheureux’ Worte, die er auf einem Faß stehend laut und deutlich spricht: Wir werden uns retten durch den Haß, den wir nähren gegen jene, die uns im Stich gelassen haben, wir werden zurückkehren und ihnen in die Augen schauen, und sie werden weder schlafen noch leben noch fliehen können vor dem Fluch, der wir für sie sein werden, wir, die am Leben Gebliebenen, und sie, die aufgrund ihrer Schuld täglich neu Gemordeten, auf ewig – vielleicht ist es das stille Licht oder das schillernde Meer: wie ein Waffenstillstand. Jedenfalls schweigen die Männer, und aus Verzweiflung wird Sanftmut, Ordnung und Gelassenheit – sie ziehen einer nach dem anderen an uns vorbei, ihre Hände, unsere Hände, eine Ration pro Mann – geradezu widersinnig, könnte man meinen, im Herzen des Meeres über hundert besiegte, verlorene, besiegte Männer, die sich still, mit übermenschlicher Geduld und übermenschlicher Einsicht, in die Reihe stellen, um zu überleben, eine perfekte Anordnung im ziellosen, chaotischen Leib des Meeres
Das erste ist mein Name, das zweite jene Augen, das dritte ein Gedanke, das vierte die hereinbrechende Nacht, das fünfte die geschundenen Körper, das sechste ist Hunger, und das siebte ist Grauen, das in der Nacht ausbrechende Grauen – wieder Nacht –, das Grauen, die Erbarmungslosigkeit, das Blut, der Tod, der Haß, stinkendes Grauen. Sie haben sich eines Fasses bemächtigt, und der Wein hat sich ihrer bemächtigt. Im Licht des Mondes schlägt ein Mann mit einer Axt auf die Vertäuung des Floßes ein, ein Offizier sucht ihn davon abzuhalten, sie fallen über ihn her und verletzen ihn mit Messerstichen, blutend kommt er zu uns zurück, wir holen die Säbel und Gewehre heraus, das Mondlicht verschwindet hinter den Wolken, es ist schwer, sich zurecht zu finden, der Augenblick nimmt kein Ende, dann schlägt eine unsichtbare Welle von Körpern und Gebrüll und Waffen über uns zusammen, die blinde Verzweiflung, die den sofortigen Tod sucht, damit es ein Ende habe, und der Haß, der
Weitere Kostenlose Bücher