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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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hier in diesem dreckigen, ziellos treibenden Kerker, wo es nunmehr nichts mehr gibt als den Tod. Unbegreiflich, daß er noch imstande ist, sich zu erinnern. Wenn ich nur sprechen könnte, wenn nur noch ein Funke Leben in mir steckte, ich würde ihm sagen, daß ich es tun mußte, daß es keine Barmherzigkeit, keine Schuld gibt in dieser Hölle, daß weder ich noch er existieren, sondern allein das Meer, Ozean Meer. Ich würde ihn bitten, mich nicht mehr anzuschauen und mich umzubringen. Bitte. Aber ich kann nicht sprechen. Er bewegt sich von da nicht weg, er wendet seine Augen nicht von den meinen. Und er tötet mich nicht. Wird das alles jemals ein Ende haben?
    Eine grauenvolle Stille herrscht auf dem Floß und rings herum. Niemand klagt mehr. Die Toten sind tot, die Lebenden warten, und weiter nichts. Keine Gebete, keine Schreie, nichts. Das Meer tanzt, aber nur sacht, es ist wie ein leiser Abschied. Ich spüre keinen Hunger, keinen Durst und keine Schmerzen mehr.
    Alles ist nur noch überwältigende Erschöpfung. Ich öffne die Augen. Der Mann ist immer noch da. Ich schließe sie wieder. Töte mich, Thomas, oder laß mich in Frieden sterben. Du hast dich schon gerächt. Geh weg. Schau auf das Meer. Ich bin nichts mehr. Meine Seele gehört mir nicht mehr, mein Leben ist nicht mehr mein Leben, nimm mir mit diesen Augen nicht auch noch meinen Tod.
    Das Meer tanzt, aber nur sacht.
    Keine Gebete, kein Wehklagen, nichts.
    Das Meer tanzt, aber nur sacht.
    Wird er zusehen, wenn ich sterbe? Sie nennen mich Thomas. Und dies ist die Geschichte eines Verbrechens. Ich schreibe sie jetzt im Geiste mit den Kräften, die mir noch bleiben, und den Augen, die fest auf den Mann gerichtet sind, dem ich niemals verzeihen werde. Lesen wird sie der Tod.
    Die Alliance war ein großes, starkes Schiff. Niemals hätte das Meer sie besiegt. Man braucht dreitausend Eichen, um ein solches Schiff zu bauen. Ein schwimmender Wald. Daß sie verlorenging, war der Dummheit der Menschen zuzuschreiben. Kapitän Chaumareys zog seine Karten zu Rate und maß die Wassertiefe. Aber er war nicht fähig, das Meer zu lesen. Er wußte seine Farben nicht zu lesen. Die Alliance landete auf der Sandbank von Arguin, ohne daß jemand es verhindern konnte. Ein merkwürdiger Schiffbruch: Man hörte ein ohrenbetäubendes Gejaule, das aus den Därmen des Schiffes kam, dann blieb es mit einem Ruck stecken und legte sich leicht auf die Seite. Reglos. Für immer. Ich habe großartige Schiffe gegen wilde Unwetter kämpfen sehen und einige, die aufgeben mußten und in den turmhohen Wellen versanken. Das war wie ein Duell. Wunderschön. Aber die Alliance hat nicht kämpfen können. Ein stilles Ende. Ringsumher das weite Meer war fast völlig glatt. Den Feind hatte sie in sich, nicht vor sich. Und ihre ganze Stärke war nutzlos gegen einen derartigen Gegner. Ich habe viele Leben gesehen, die auf eine solch unsinnige Weise Schiffbruch erlitten haben. Aber Schiffe nie.
    Das Schiff begann zu knirschen. Sie beschlossen, die Alliance sich selbst zu überlassen, und bauten das Floß. Es schmeckte nach Tod, noch ehe es zu Wasser gelassen wurde. Die Männer spürten das und umringten die Rettungsboote, um der Falle zu entgehen. Sie mußten die Gewehre auf sie richten, um sie zum Einsteigen zu zwingen. Der Kommandant versprach und schwor, daß er sie nicht im Stich lassen würde, daß die Rettungsboote das Floß abschleppen würden, daß überhaupt kein Risiko bestünde. Schließlich landeten sie zusammengepfercht wie Tiere auf dem großen Kahn ohne Bordwände, ohne Kiel, ohne Steuer. Und ich war einer von ihnen. Es waren Soldaten dabei und Matrosen. Einige Passagiere. Und dann vier Offiziere, ein Kartograph und ein Arzt mit Namen Savigny: Sie nahmen die Floßmitte ein, wo die Vorräte gelagert waren, die wenigen, die im Durcheinander des Umsteigens nicht ins Meer gefallen waren. Sie stellten sich auf einen großen Kasten: Überall um sie herum standen wir, bis zu den Knien im Wasser, weil das Floß unter unserem Gewicht nachgab. Schon damals hätte ich alles durchschauen müssen.
    Von diesen Augenblicken ist mir ein Bild gegenwärtig geblieben. Schmaltz. Schmaltz, der Gouverneur, derjenige, der im Namen des Königs neue Kolonien in Besitz nehmen sollte. Sie ließen ihn, in seinem Sessel thronend, geradewegs an der Schiffswand herunter. Der Sessel aus Samt und Gold, und er dann, unerschütterlich. Sie wurden heruntergelassen, als seien sie eine Statue aus einem Guß. Wir auf dem Floß

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