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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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hin und her wendete, sah er eine Kutsche vorbeifahren, eine von den schönen, mit Gepäck und Hutschachteln auf dem Dach. Sie fuhr stadtauswärts. Und drinnen, er sah sie ganz genau, saß Anna Ancher. Sie war’s tatsächlich. Das Köpfchen mit den rabenschwarzen Haaren. Alles war vorhanden. Auch die Ausstrahlung in seine Hose hinein war die gleiche wie am Tag zuvor. Bartleboom begriff. Was man auch immer über ihn sagen mochte, er war ein Mann, der, wenn es geboten war, seine Entscheidungen zu treffen wußte, da ließ er nicht mit sich spaßen, wenn es geboten war, drückte er sich vor nichts. So kehrte er um, packte zu Hause seine Koffer und trat reisefertig seiner Verlobten Maria Luigia Severina gegenüber. Sie machte sich gerade mit Haarbürsten, Schleifchen und Halsketten zu schaffen.
    »Maria Luigia …«
    »Ich bitte dich, Ismael, ich bin schon spät dran …«
    »Maria Luigia, ich möchte dich darüber informieren, daß du nicht mehr verlobt bist.«
    »Einverstanden, Ismael, laß uns später darüber sprechen.«
    »Und folgerichtig bin ich auch nicht mehr verlobt.«
    »Das liegt auf der Hand, Ismael.«
    »Also leb wohl.«
    Was an dieser Frau so erstaunlich war, war die Langsamkeit ihres Reaktionsvermögens. Mehr als einmal sprachen wir mit Bartleboom über diese Angelegenheit, er war von diesem Phänomen absolut fasziniert, er hatte auch darüber geforscht, sozusagen, und hatte sich schließlich eine Kompetenz in dieser Hinsicht erwerben, die man geradezu wissenschaftlich und auch umfassend nennen konnte.
    Im vorliegenden Fall wußte er also nur zu gut, daß die Zeit, die ihm zur Verfügung stand, um ungestraft aus dem Haus zu verschwinden, zwischen zweiundzwanzig und sechsundzwanzig Sekunden lag. Er hatte ausgerechnet, daß ihm diese Zeitspanne ausreichen würde, um die Kutsche zu erreichen. In der Tat, genau in dem Augenblick, als er sein Hinterteil in den Wagen schob, wurde die klare Bad Hollener Morgenluft von einem unmenschlichen Schrei aus den Angeln gehoben:
    »BAAAAAAARTLEBOOM!«
    Was für eine Stimme diese Frau hatte. Noch Jahre später erzählte man sich in Bad Hollen, daß es war, als hätte jemand ein Klavier vom Kirchturm geradewegs auf ein Lager voller Kristallüster fallen lassen.
    Bartleboom hatte sich erkundigt: Die Anchers wohnten in Hollenberg, vierundfünfzig Kilometer nördlich von Bad Hollen gelegen. Er machte sich auf die Reise. Er hatte den Anzug an, den er zu bedeutsamen Anlässen trug. Auch der Hut war sein Festtagshut. Er schwitzte natürlich, jedoch in den angemessenen Grenzen allgemein üblicher Schicklichkeit. Die Kutsche fuhr ohne Schwierigkeiten auf dem Weg zwischen den Hügeln. Alles schien in bester Ordnung.
    Was die Worte anbelangte, die er Anna Ancher sagen würde, wenn er vor ihr stand, hatte Bartleboom eine klare Vorstellung:
    »Mein Fräulein, auf Sie habe ich gewartet. Jahrelang habe ich auf Sie gewartet.«
    Und, zack, würde er ihr die Mahagonikassette mit all den Briefen überreichen, Hunderten von Briefen, etwas, was jedermann die Sprache verschlagen mußte vor Staunen und vor Ergriffenheit. Das war ein guter Plan, da gibt es gar nichts. Bartleboom drehte und wendete ihn die ganze Fahrt über in seinem Kopf hin und her, was hinsichtlich des Geistesumfangs gewisser großer Forscher und Denker – was Professor Bartleboom ohne jeden Zweifel war – nachdenklich stimmt, denn für sie bringt die vortreffliche Gabe, sich mit außerordentlicher Sorgfalt und Tiefgründigkeit auf einen Gedanken zu konzentrieren, den unsicheren Nebeneffekt mit sich, alle anderen angrenzenden, verwandten und dazugehörigen Gedanken nämlich augenblicklich und auf eine einmalig vollständige Weise zu beseitigen. Närrische Köpfe, mit einem Wort. So verbrachte zum Beispiel Bartleboom die gesamte Reise damit, die unangreifbar logische Exaktheit seines Planes zu überprüfen, wobei ihm jedoch erst sieben Kilometer vor Hollenberg, und zwar genau zwischen den Dörfern Alzen und Bergen, einfiel, daß er, um es präzise auszudrücken, besagte Mahagonikassette und somit sämtliche Briefe, Hunderte von Briefen, gar nicht mehr hatte.
    Das sind Schicksalsschläge. Wenn Sie verstehen, was ich meine.
    In der Tat hatte Bartleboom die Kassette mit den Briefen am Verlobungstag Maria Luigia Severina gegeben. Wenn auch nicht gerade besonders überzeugt, hatte er ihr doch das Ganze mit einer gewissen Feierlichkeit überreicht und dabei gesagt:
    »Mein Fräulein, auf Sie habe ich gewartet. Jahrelang habe ich auf

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