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Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres

Titel: Oceano Mare - Das Märchen vom Wesen des Meeres Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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Sie gewartet.«
    Nachdem die zehn bis zwölf Sekunden der üblichen
    Verzögerung verstrichen waren, hatte Maria Luigia die Augen verdreht, den Hals gereckt und ungläubig nur zwei elementare Wörter hervorgebracht:
    »Auf mich?«
    »Auf mich« war nun nicht gerade die Antwort, von der Bartleboom seit Jahren geträumt hatte, während er jene Briefe schrieb, allein lebte und sich durchschlug, so gut er konnte. Daher versteht es sich von selbst, daß er von diesem Verlauf ein wenig enttäuscht war, was man ja verstehen kann. Das erklärt auch, warum er danach auf die Sache mit den Briefen nicht mehr zurückkam und sich darauf beschränkte festzustellen, daß die Mahagonikassette immer noch da war, bei Maria Luigia, und nur Gott wußte, ob irgend jemand sie je geöffnet hat. So was kommt vor. Jemand erträumt sich etwas, etwas Eigenes, Intimes, und dann spielt das Leben nicht mit und zerstört alle Träume; in einem einzigen Augenblick, mit einem Satz, zerstiebt alles. So was kommt vor. Nicht von ungefähr ist das Leben ein elendes Geschäft. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden. Es kennt keine Dankbarkeit, das Leben, wenn Sie verstehen, was ich meine.
    Dankbarkeit.
    Wie dem auch sei.
    Das Problem bestand nun darin, daß die Kassette benötigt wurde, sich allerdings am denkbar ungünstigsten Ort befand, nämlich irgendwo im Hause von Maria Luigia. Bartleboom stieg in Balzen, fünf Kilometer vor Hollenberg, aus, übernachtete im Gasthof und nahm am nächsten Morgen die Kutsche, die in rückwärtiger Richtung nach Bad Hollen fuhr. Seine Odyssee hatte ihren Anfang genommen. Eine wahre Odyssee, wenn Sie mir glauben wollen. Bei Maria Luigia benutzte er die bekannte Technik, da konnte nichts schiefgehen. Er trat, ohne sich ankündigen zu lassen, in das Zimmer, in dem sie, um ihre Nerven zu schonen, zu Bett liegend schmachtete, und sagte ohne Vorrede:
    »Ich bin gekommen, um die Briefe zu holen, meine Liebe.«
    »Sie liegen auf dem Schreibtisch, mein Schatz«, antwortete sie mit einer gewissen Sanftmut. Dann, nach genau sechsundzwanzig Sekunden, stieß sie einen erstickten Klageschrei aus und wurde ohnmächtig. Bartleboom, das versteht sich von selbst, hatte sich längst aus dem Staub gemacht. Er nahm erneut eine Kutsche, diesmal in Richtung Hollenberg, und am Abend des darauffolgenden Tages sprach er im Hause Ancher vor. Er wurde in den Salon geleitet, und es fehlte nur wenig daran, daß er nicht tot umfiel, mausetot. Sie saß am Klavier, die junge Dame, und spielte mit ihrem Köpfchen, den rabenschwarzen Haaren und so fort, spielte wie ein Engel. Sie allein, dort, sie und das Klavier und nichts weiter. Unfaßbar. Bartleboom blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen, seine Mahagonikassette in der Hand, schneeweiß im Gesicht. Er konnte nicht einmal mehr schwitzen. Sich nur in ihre Betrachtung vertiefen und nichts weiter.
    Als die Musik aussetzte, wandte die junge Dame ihm ihren Blick zu. Endgültig hingerissen durchquerte er den Salon, trat vor sie, legte die Mahagonikassette auf das Klavier und sagte:
    »Fräulein Anna, auf Sie habe ich gewartet. Jahrelang habe ich auf Sie gewartet.«
    Auch diesmal war die Antwort ungewöhnlich:
    »Ich bin nicht Anna.«
    »Wie bitte?«
    »Ich heiße Elisabeth. Anna ist meine Schwester.«
    Zwillingsschwestern, wenn Sie verstehen, was ich meine.
    Zwei Wassertropfen.
    »Meine Schwester befindet sich in Bad Hollen, dem Thermalbad. Etwa fünfzig Kilometer von hier.«
    »Ja, ich kenne den Weg, vielen Dank.«
    Das sind Schicksalsschläge. Zugestanden. Wahre Schicksalsschläge. Zum Glück besaß Bartleboom Durchhaltevermögen, er hatte mehr Charakterstärke in den Knochen als irgendeiner sonst. Er nahm seine Reise wieder auf, Ziel Bad Hollen. Wenn Anna Ancher dort war, mußte er dorthin fahren. Ganz einfach. Es war mehr oder weniger auf halber Strecke, als es anfing, ihm nicht mehr so ganz einfach vorzukommen. Tatsache war, daß ihm jene Musik nicht mehr aus dem Sinn gehen wollte. Und das Klavier, die Hände auf der Tastatur, das Köpfchen mit den rabenschwarzen Haaren, die ganze Erscheinung, alles eben. Das war etwas, was vom Teufel inszeniert zu sein schien, so perfekt war es gemacht. Oder vom Schicksal, sagte sich Bartleboom. Er begann, sich zu quälen, der Herr Professor, wegen dieser Geschichte mit den Zwillingsschwestern, die eine Malerin, die andere Pianistin, er fand sich nicht mehr zurecht, was ja auch verständlich ist. Je mehr Zeit verging, um so weniger

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