Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
in dem unvollendeten Roman, dann griff er nach der fünften Auflage, die er aus Gewohnheit zusätzlich bestellt hatte, für den Fall, daß die andere nicht vorrätig wäre. Er schaute das Buch mechanisch durch, ohne zu erwarten, irgend etwas Besonderes zu finden. Doch beim Blättern fiel sein Blick auf die Überschrift »Letztes Kapitel«. Er las es, und die ganze Zeit dachte er daran, was Aharonowitsch zu Eli Bachar gesagt hatte: »Junger Mann, ein wenig Bildung hat noch niemandem geschadet. Gehen Sie und schlagen Sie nach, was Agnon in seinem Buch Schira geändert hat.« Er las mit großem Interesse auch den Aufsatz von Amona Jaron, der dieser neuen Ausgabe hinzugefügt war: »In derselben Zeit, als mein Vater Schira schrieb, arbeitete er auch an der Geschichte Ad olam. Nachdem Schira veröffentlicht worden war, fand Rafi Weiser vom Agnonarchiv eine handgeschriebene Manuskriptseite von Ad olam, auf der Agnon die Erzählung Ad olam mit Schira verknüpft hatte. Das heißt, in irgendeinem Stadium hatte er Ad olam aus Schira herausgelöst und zu einer eigenständigen Erzählung gemacht. In Ad olam kommt der Gelehrte in ein Leprakrankenhaus und verläßt es nie mehr.«
Michael war schockiert. Die Beschreibung, wie Manfred Herbst in das Leprakrankenhaus eingeliefert wurde, machte ihm angst. Er dachte daran, wie zufällig er dieses Kapitel entdeckt hatte, und wunderte sich, warum er Klein nicht weiter nach dem letzten Kapitel gefragt hatte. Er hatte das Gefühl, daß es hier etwas Wichtiges zu begreifen gab, doch er wußte nicht, was es war. Mehr als alles verwirrte ihn die Ahnung, daß dieses Kapitel etwas Schreckliches, fast Ekelerregendes beschrieb. Und ich verstehe nicht, wie das Ganze mit Tirosch zusammenhängt, überlegte Michael, als er langsam zum Zeitungslesesaal hinüberging, nachdem er die entsprechenden Seiten zum Kopieren markiert hatte.
Dort, im Zeitungslesesaal, fand er Literaturbeilagen, in denen ein monatelanger Krieg zwischen Tirosch und Aharonowitsch ausgetragen worden war. Am Anfang stand eine akademische Meinungsverschiedenheit über den letzten Gedichtband Amichais, woraus sich dann erbitterte persönliche Angriffe Aharonowitschs auf Tiroschs Art der Kommentierung entwickelten. Es gab sogar einen Beitrag, der eine ausdrückliche Distanzierung von einem Gedicht Tiroschs brachte, neben einer allgemein gehaltenen Kritik (»Es besteht daher keine Notwendigkeit eines weiteren Beweises, um die Mangelhaftigkeit des Gedichts zu zeigen. Die bedeutende Lyrik des Autors wird natürlich nicht in Frage gestellt. Dieses Machwerk jedoch steht auf schwachen Füßen, oder, um es mit den bildhaften Worten des Werkes selbst zu beschreiben: auf schmelzenden Füßen aus Schnee. Ihm fehlt die organische Verbindung der einzelnen Teile, es entsteht kein Funke zwischen Aufbau und Inhalt, man könnte das Ganze als Konglomerat bezeichnen, als Sammelsurium zufälliger Details aus allen Ecken und Enden der Welt ...«). Michael bemerkte den Unterschied zwischen Aharonowitschs Schreibstil und der gelehrten Sprechweise, derer er sich für gewöhnlich bediente, und mußte lächeln.
Er konnte nicht anders, die Antworten Tiroschs bereiteten ihm Vergnügen. Wieder fiel ihm der Spott auf, das Gift, die kühle, ironische Haltung, die Tirosch distanziert und unverletzlich erscheinen ließ, bevor er dazu überging, die wissenschaftlichen Arbeiten Aharonowitschs als trivial zu bezeichnen. Auch diese Seiten markierte Michael zum Kopieren.
Schließlich ging er hinüber zum allgemeinen Lesesaal, wo er von der Bibliothekarin begrüßt wurde, einer rundlichen, gutmütigen Brünetten, die sich noch aus seiner Zeit als Student an ihn erinnerte. Sie gab ihm mit einem liebenswürdigen Lächeln den Stapel Bücher, die er bestellt hatte – alle waren da –, und so hatte er drei Ausgaben der Weißen Gedichte von Tirosch zur Verfügung, und zwei Ausgaben von Tuwja Schajs Buch über Tiroschs Gedichte. Er fing an, darin zu blättern. Das Vorwort hatte nicht die geringste persönliche Note, in ihm würdigte Tuwja das Werk des Dichters und seine Sonderstellung innerhalb der israelischen Lyrik. »Eine ganze Generation von Dichtern«, stand da, »sieht sich der literarischen Tradition verpflichtet, die Tirosch begründet hat.« Dann entdeckte er die Widmung: »Für Scha'ul, wenn er es für wert hält.«
Sofort fiel Michael ein, was Maja über ein Buch erzählt hatte, das T S. Eliot an Ezra Pound geschickt hatte, mit der Widmung »Für Ezra Pound, wenn
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