Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
Katalognummern auf Bestellkarten einzutragen begann. Aus alter Erfahrung – damals hatte er oft genug eifrig gewartet, zum Beispiel auf einen seltenen Aufsatz, und zu seiner Enttäuschung im Lesesaal dann den roten Zettel mit der Aufschrift gefunden, das Gesuchte sei »nicht vorrätig« – bestellte Michael Ochajon alle Exemplare. Besonders achtete er darauf, die mit »A« gekennzeichnete Archivausgabe zu bestellen, und schließlich schrieb er auch das Buch von Tuwja Schaj auf: Die Bedeutung Tiroschs – Betrachtungen zu den Gedichten von Scha'ul Tirosch. Dann steckte er alle Zettel in den Schlitz, auf dem mit roten Buchstaben »Bestellung« stand, und fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis die Bücher da wären. Der Student am Counter sagte: »Mindestens eine Stunde«, und Michael seufzte, es hatte sich nichts geändert. Er ging zurück zum Katalograum und suchte fieberhaft nach den Werken Agnons. Er bestellte beide angegebenen Ausgaben des Romans Schira und ging zurück zur Bibliothek.
Die Cafeteria von damals, im Untergeschoß, war verschwunden, und wieder tat ihm das Herz weh. Ausgerechnet im Lesesaal für jüdische Literatur, während er in den Zeitschriften Literatur und Lesezeichen und Waage blätterte und über den israelischen Versuch, Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu sein, nachdachte und sich über die Überschriften der Beiträge, die ihm völlig unverständlich vorkamen (»Semiotische Variationen phonetischer Kombinationen«, »Motivierte Funktionen der gesprochenen Sprache«) wunderte – ausgerechnet dort packte ihn mörderische Wut auf Maja, auf ihren Mann und auf die ganze Welt, und er nahm es sich noch nicht einmal übel. Nur diese Wut, das wußte Michael Ochajon, würde ihm helfen, die erforderliche Energie für die Ermittlungen in diesem »Fall« zu sammeln, und ihm vielleicht helfen, seine ganze Konzentrationsfähigkeit aufzubringen und so gut wie möglich in eine wissenschaftliche Disziplin einzudringen, von der er keine Ahnung hatte – fast keine, denn ein durchschnittlicher Leser wie er, das wußte er, war kein Fachmann auf diesem Gebiet.
Er saß ein paar Stunden im Lesesaal und blätterte in Vorträgen und Referaten, und als er den Blick hob und vor sich Frau Professor Nechama Leibowitz sah, in seinen Augen eines der letzten Relikte der alten Welt, als er sie zum Counter der Bibliothekarinnen gehen sah, den Kopf gerade, das ewige braune Barett unbeweglich, als er dann ihre Stimme hörte, obwohl sie zu flüstern versuchte, als sie zur Bibliothekarin sagte: »Aber das war nicht meine Bestellung, das ist nicht mein Buch, es ist vermutlich das für meinen Bruder«, und das liebenswürdige Lächeln sah, als sie zu ihrem Platz zurückkehrte, seufzte er erleichtert auf und vertiefte sich wieder in die Kritiken und Besprechungen der Gedichte Tiroschs und in die Aufsätze, die Tirosch über andere geschrieben hatte, vor allem über unbekannte Dichter.
Er überflog in mehreren Nummern der Literaturzeitung Richtungen Tiroschs Kritiken an heutiger Lyrik und bemühte sich konzentriert, die ästhetischen Kriterien des Mannes zu verstehen, der Dichter pries und rühmte, die bis zur Veröffentlichung seiner Artikel noch unbekannt gewesen waren und deren Namen und Werke heute jeder kannte, auch Michael. Er registrierte die giftigen Bemerkungen, mit denen Tirosch Dichter bedachte, deren Namen Michael noch nie gehört hatte.
Nicht alle von Tirosch gelobten Gedichte sprachen Michael an. Zum Teil kamen sie ihm wie eine Anhäufung bedeutungsloser Wörter vor. Doch er erkannte Tiroschs Macht, mit der er die »poetische Landkarte« von Israel festgelegt hatte, und die Erkenntnis dieser Macht versetzte ihn in eine unerklärliche Spannung.
Auf einen Zettel, den er von der jungen Bibliothekarin bekommen hatte, notierte er die Namen der Dichter, die Tirosch erbarmungslos angegriffen hatte, und ihre Bücher.
In der Zeitschrift Literatur fand er zwei Aufsätze Tiroschs, die sich mit Gedichten befaßten, die er, Michael, selbst kannte, von Tscheranichowski. Im ersten Abschnitt gab Tirosch einen Überblick über die Gedichte Tscheranichowskis, und mit einigen wunderbar klaren Sätzen erläuterte er die übliche Auslegung von Tscheranichowskis Lyrik, bevor er ein paar neue Deutungsmöglichkeiten vorbrachte, die, zu Michaels eigenem Erstaunen, sein Interesse weckten.
Dann schlug er einen Band Schira von Agnon auf, eine Erstausgabe, und tatsächlich fehlte das letzte Kapitel. Er blätterte eine Weile
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