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Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort

Titel: Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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und schaute ihm in die Augen, »ich habe ihn nicht ermordet. Obwohl man nicht sagen könnte, daß ich ihn geliebt habe, wie Sie sicher schon festgestellt haben, trotzdem habe ich ihn, das muß ich sagen, immer geschätzt.«
    Michael fragte: »Und wer, glauben Sie, hat ihn ermordet?«
    Schulamit Zelermaier legte ihre Beine übereinander und antwortete mit ihrer tiefen Stimme: »Mich interessiert es mehr zu erfahren, wer Ido ermordet hat, und obwohl ich Kriminalromane mag, habe ich diesbezüglich keine Ahnung.« Sie kräuselte die Oberlippe und schwieg.
    Michael betrachtete sie und sagte: »Auch nicht nach dem letzten Fakultätsseminar?« Er erntete einen langen Blick, der ihm, ob er es wollte oder nicht, Vergnügen bereitete. Diese große Frau, die zugleich etwas Männliches und etwas Jungfräuliches hatte, gefiel ihm.
    »Im letzten Fakultätsseminar«, sagte sie schnell, »hat Ido die Gedichte Tiroschs kritisiert, etwas, was vor ihm noch nie jemand getan hatte, obwohl auch ich glaube«, sie senkte die Stimme, »daß seine politische Lyrik nicht wert ist, gedruckt zu werden. Dieser Vorfall zeigt nur, daß Ido ein gescheiter und tapferer Mensch war.«
    »Und der Angriff auf Ferber?« fragte Michael. Sie zog ihren Faltenrock über die Knie und streckte die Beine, bevor sie antwortete: »Das war kein direkter Angriff. Hier ging es um jemanden, den Tirosch entdeckt hat, das ist eine Sache für sich. Als er noch ziemlich neu in Israel war, ein Student an der Universität, der mit der hebräischen Sprache kämpfte und noch kein einziges Gedicht veröffentlicht hatte, fuhr er einmal nach Wien, um seine Mutter zu besuchen. Er hat mir mehr als einmal erzählt, wie er einen russischen Flüchtling traf, der ihm einige Blätter mit den Gedichten Ferbers in die Hand drückte, und wie er dann die Schrift entzifferte. Sie müssen verstehen, daß Gedichte, die in einem Arbeitslager versteckt worden waren, viel Zeit brauchen, bis sie redigiert und zum Druck fertig sind. Von meinem Fachbereich her weiß ich, wieviel Zeit man in diese Papierfetzchen investieren muß. Die Tatsache, daß die Gedichte mittelmäßig sind, vielleicht sogar ein bißchen primitiv, hinderte Scha'ul nicht daran, sie schon deshalb zu bewundern, weil sie von einem jungen Mann in einem sowjetischen Arbeitslager geschrieben worden waren, in den fünfziger Jahren, auf hebräisch. Das reichte, um ihn zu beeindrucken. Er hat die Frage nach ihrem künstlerischen Wert überhaupt nie gestellt, in diesem Fall ist er von seiner üblichen Gewohnheit abgewichen. Wissen Sie, ich habe ihm einmal Gedichte eines blinden jungen Mannes gegeben, der bei mir studierte, und er hat sie mir mit höflicher Verachtung zurückgegeben. Da haben die Umstände offenbar nichts genützt, weil er kein Student von ihm war. Ido hat eine Frage gestellt, die eigentlich selbstverständlich ist: ob historische Bedingungen höher anzusetzen sind als die üblichen Kriterien für Poesie, und es war auch der passende Ort für diese Frage. Aber wer hätte Ido dafür umbringen können? Tirosch ist doch selbst tot, und Ferber auch.« Sie lächelte vor sich hin, als handle es sich um einen privaten Witz, dann verdunkelte sich ihr Gesicht. »Tuwja«, sagte sie zögernd, dann fuhr sie mit sicherer Stimme fort: »Tuwja hätte versucht, Ido von seinem Fehler zu überzeugen, er wäre wütend gewesen, er war wütend, aber Tuwja kann keiner Fliege etwas zuleide tun, und ganz bestimmt ist er nicht raffiniert genug, um an Preßluftflaschen herumzumanipulieren. Der junge Mann, der mich gestern und vorgestern befragt hat, hat mir davon berichtet. Er wollte wissen, ob ich eine Ahnung vom Tauchen hätte.« Sie ließ ein schnaubendes Kichern hören. »Aber um auf Tuwja zurückzukommen: Er ist eine tragische Figur, aber in einem ganz anderen Sinn.« Wieder zog ein Schatten über ihr Gesicht. »Täuschen Sie sich nicht in ihm, er ist ein komplizierter Mensch mit großen Qualitäten, Sie dürfen nicht auf billigen Klatsch reinfallen.« Sie versank in Gedanken. Dann erhob sie sich mit einem tiefen Seufzer. »Es wird Zeit, daß ich zu meiner Arbeit zurückkehre«, sagte sie und sammelte mit erstaunlicher Geschwindigkeit ihre Papiere und die beiden alten Bücher, die unter ihnen vergraben waren, ein, warf die Zigarettenkippe in den Aschenbecher und schritt, ohne noch etwas zu sagen, auf den Lesesaal für jüdische Wissenschaften zu.
    Michael kehrte zu Tiroschs Gedichten zurück. Wie ein Schüler schrieb er Zeilen ab und

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