Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
unterstrich Metaphern, mit einem Eifer, der ihm selbst unverständlich war. Die Tatsache, daß in der Bücherei alle Werke Tiroschs vorhanden waren, war jetzt ohne Bedeutung. Als er den Lesesaal für jüdische Wissenschaften betreten hatte, war es der Fakultät wegen geschehen. Er wußte zwar, daß er unbedingt in die Welt der Menschen eindringen mußte, die er kennengelernt hatte, daß von da die Lösung kommen würde. Aber je mehr er las, um so deutlicher wurde ihm, daß er dabei nichts erfuhr, was die Ermittlungen weiterbringen würde, sondern daß er sich mit seinem Aufenthalt hier selbst einen Gefallen tat. Aber, erinnerte er sich, es gibt noch die Sache mit Schira , und dabei hat sich Tirosch fast nie mit Prosa beschäftigt. Warum hatte er »Schira – das letzte Kapitel« auf den Zettel geschrieben, den sie auf seinem Schreibtisch gefunden hatten? Wollte er wirklich einen Aufsatz darüber schreiben? Immerhin weiß ich jetzt, daß es dieses letzte Kapitel gibt, aber das ist auch schon alles. Eine innere Stimme, dumpf und erschreckend, sagte ihm, daß er beim Lesen dieses Kapitels noch etwas anderes begriffen hatte, etwas, was in Zusammenhang mit Tuwja Schajs Vorlesung stand, die er morgens gehört hatte. Etwas, was mit Herbsts Drang, der Krankenschwester Schira in das Krankenhaus für Leprakranke zu folgen, zu tun hatte. Es gibt Menschen, die gehen bis ans Ende, dachte er, aber warum hat Agnon das mit Lepra verbunden?
Er las eine Weile in Tuwja Schajs Buch, dann kehrte er zu den Gedichten zurück. Wieder hatte er das Gefühl, nur in ihnen das Ende des Fadens zu finden. Er wußte, daß er mit den Mitgliedern der Sonderkommission nicht über dieses Gefühl sprechen konnte, sie würden den Zusammenhang nicht sehen. Er selbst hätte den Zusammenhang auch nicht erklären können, aber seit er den Film über das Fakultätsseminar gesehen hatte, fühlte er ihn, spürte, daß die Gedichte lebten und atmeten, fühlte ihre Kraft, wie die Schneide eines Messers, und die Bitterkeit in ihm wuchs. »Du täuschst dich«, sagte er beim Lesen zu sich, »sie bringen nichts Neues.« Von Zeit zu Zeit ließ er den Blick durch den Lesesaal streifen, und dann stiegen die Bilder wieder vor ihm auf. Er wehrte sich nicht gegen sie.
Das Bild Ruth Duda'is bei der Beerdigung ihres Mannes, ihr Gesicht beim Verhör, die weinerliche Stimme, als sie zugab, seit Freitag nachmittag auf einen Anruf Tiroschs gewartet zu haben, daß sie einen Babysitter bestellt hatte, und wie sie dann zusammen mit der Babysitterin gewartet hatte, wie sie dann das junge Mädchen, als er bis abends nicht angerufen hatte, nach Hause schickte. Wie sie dann jede Stunde vergeblich bei ihm angerufen hatte.
Michael meinte ihre Stimme zu hören: »Es fing an, kurz bevor Ido nach Amerika fuhr, aber ich war nie wirklich mit ihm zusammen.« Er erinnerte sich auch, daß Eli Bachar mit kalter Stimme gefragt hatte, ob sie damit sagen wolle, daß sie nicht mit Tirosch geschlafen habe. Er erinnerte sich an den gekränkten Blick, den sie ihm, Michael, unter Tränen zugeworfen hatte, an die Röte ihrer Wangen und das verlegene Nicken, als er Eli Bachars Frage wiederholt hatte.
»Es hat damit angefangen, daß ich ihn um Hilfe bei meiner Doktorarbeit gebeten habe«, sagte sie und erklärte das Thema ihrer Arbeit, etwas über Ästhetik. »Er hatte mir lange davor seine Hilfe angeboten, aber es war mir nicht angenehm, ich hatte Angst vor ihm. Er war einmal bei uns, als Ido nicht zu Hause war. Er saß zurückgelehnt auf einem Sessel«, hier gab sie eine plastische Beschreibung seiner Haltung mit den hinter dem Kopf verschränkten Armen, der Handbewegung, mit der er die Locke zurückgestrichen hatte, des interessierten Blicks, mit dem er sie betrachtet hatte, sie sprach von ihrer eigenen Verlegenheit, von ihrer Angst, von ihren zitternden Händen, als sie ihm Kaffee einschenkte. Er habe eine Bemerkung gemacht, daß seine Beziehung zum weiblichen Geschlecht sich erschöpft hätte, und sie wußte, daß er damit Ruchama meinte. Dann zitierte Ruth Tiroschs Sätze über seine eigene Einsamkeit, und Michael meinte wieder ihre flehende Stimme zu hören, als sie ihn fragte, ob er verstehen könne, wie geschmeichelt sie sich fühlte, als Tirosch mit ihr sprach, als könne sie ihn »aus seiner Einsamkeit erretten«. Er erinnerte sich auch, daß er ihr geglaubt hatte, als sie sagte: »Es ist absurd, mich zu fragen, ob ich Ido getötet habe. Wir sind noch nicht sehr lange verheiratet, wir waren
Weitere Kostenlose Bücher