Ochajon 02 - Am Anfang war das Wort
Forschung begabt, aber nicht für das Schöpferische. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge.«
»Ja, das habe ich verstanden, natürlich, das habe ich auch nicht gemeint.«
»Was haben Sie gemeint?« fragte Klein müde.
»Ich habe den Geschmack gemeint. Wie kann es sein, daß sie selbst nicht sieht, wie schlecht die Gedichte sind.«
Klein lächelte. »Das hat überhaupt nichts mit Begabung zu tun«, sagte er entschieden. »Ein Mensch kann den Wert der Dinge, die er macht, nicht beurteilen, erst aus einem gewissen Abstand, rückblickend. Und selbst das nur manchmal. Es gibt natürlich Ausnahmen von der Regel, aber im allgemeinen, besonders, wenn man schreibt, besonders beim ersten Mal, kann man es nicht wissen. Der Schöpfer versinkt in dem Geschaffenen, spricht aus tiefstem Herzen. Es braucht eine gewisse Distanz, um das eigene Werk einzuschätzen.« Er wischte sich über die Stirn. »Aber daraus kann man nichts folgern. Sie ist eine sehr begabte Wissenschaftlerin, und sie hat, wie wir alle, die Sehnsucht, etwas zu erschaffen.« Seine Stimme war immer leiser geworden, doch dann sprach er mit Begeisterung weiter: »Ich glaube, daß der Forscher seinen Platz in der Kunst ganz allgemein hat, und auf dem Gebiet der Literatur im besonderen, aber in jedem guten Forscher steckt auch insgeheim ein enttäuschter Künstler, das heißt, jeder gute Literaturforscher träumt von einem eigenen ›großen‹ Werk.«
Michael unterdrückte den Wunsch, ihn zu fragen, ob auch er, Klein, vergebliche Schaffensversuche hinter sich habe.
»Im allgemeinen versucht man es, wenn man jünger ist, und oft stehen die Dinge zueinander in Kontrast: Je weiter das Verständnis des Forschers entwickelt ist, je weiter er sich in die Wissenschaft vertieft, um so schwerer wird es ihm fallen, etwas zu schaffen.«
Michael schaute ihn schweigend an.
»Und das ist es genau, was mich an Scha'ul so erstaunt hat. Die Kritikfähigkeit in der Kunst und seine literarische Kompetenz, das tiefe literarische Verständnis, das er hatte, neben der großen Dichtung, die er schuf. Was kann ein Mensch mehr von sich erwarten?« Mit traurigen Augen blickte Klein an Michael vorbei aus dem Fenster.
»Was heißt das, es hat Sie erstaunt?«
Klein spielte mit dem gelben Plastikbecher und schwieg. Ein paarmal machte er den Mund auf, und dann sagte er langsam: »Ich habe Scha'ul Tirosch über dreißig Jahre lang gekannt. Ein knappes Jahr haben wir zusammen in einer Wohnung gelebt, als wir Studenten waren. Zweifellos war er mir einige Jahre sehr nah.« Er senkte den Kopf und betrachtete seine Hände. » Sie müssen wissen, daß ich diese Dinge sage, gerade weil ich ihn mochte. Er hatte viel Charme, der Charme, den man bei Menschen findet, die die Welt als einen großen Spiegel betrachten, als unaufhörliche Bestätigung ihrer eigenen Existenz, und sich deshalb so bemühen, sie zu bezaubern. Und er besaß noch etwas. Trotz seines Auftretens, das, voller theatralischer Gesten war, hatte er die seltene Fähigkeit, sich selbst auch mit Ironie zu betrachten. Einmal, als wir beide noch jung waren, sagte er in meiner Anwesenheit zu sich selbst: ›Wir kennen dich, Scha'ul, mein Freund, du wirst ihr unter dem Fenster eine Serenade singen, um dich selbst zu beobachten, wie du unter ihrem Fenster eine Serenade singst.‹ Man darf auch nicht vergessen, wie interessant und klug er war und was für einen differenzierten Geschmack er hatte. Aber das war es nicht, was ich sagen wollte.« Er hielt inne und überlegte. »Worüber haben wir gesprochen? Ja, über diese wirklich einzigartige Kombination, auf der einen Seite ein erstklassiger Kritiker, ein Erforscher moderner Lyrik, mit einem hervorragenden Verständnis für Literatur, und zugleich ein großer Dichter. Ein Widerspruch in sich, meiner Meinung nach, vor allem wenn man auch an seinen Nihilismus denkt.«
»Nihilismus?« wiederholte Michael das Wort nachdenklich.
»Zum Beispiel die Frauen«, sagte Klein und schwieg.
Michael wartete.
»Normalerweise sagen alle, Scha'ul habe die Frauen geliebt. Das stimmt nicht. Nie habe ich die ... hm ... psychologischen Tiefen dieses Phänomens verstanden, aber ich bin ganz sicher, daß er die Frauen nicht liebte. Aber was soll ich sagen, über Don Juan ist schon viel geschrieben worden. Hier kann man jedoch noch nicht mal von einem Haß gegen Frauen sprechen. Ich würde es so formulieren: eine ständige Suche nach neuen Reizen, etwas Hungriges, Hunger nach Bestätigung, Bestätigung des
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